Blockchain, Bitcoin: Seit Monaten gibt es einen Rummel um diese digitale Technologie und die Kryptowährungen. Ein Experte lässt jetzt die Luft raus.
Blockchain hat das Zeug, Banken oder Versicherungen abzuschaffen: Starker Tobak, was seit Monaten über die datenbankgetriebene Technologie behauptet wird. Experten sprechen gar davon, dass ein Teil des staatlichen Behördenapparates von Blockchain ersetzt werden könnte, weil dann die Nutzer Daten direkt miteinander austauschen – Zwischenstationen würden überflüssig. Der Berliner Blogger Michael Seemann hat sich einen Namen gemacht wegen seiner grundlegenden Gedanken zur digitalen Zukunft. Seine Ansicht: Blockchain und Kunstwährungen wie Bitcoin braucht kein Mensch, der Rummel ist übertrieben. Seemann spricht am kommenden Donnerstag, 27. September, auf der Konferenz mainIT in Eibelstadt bei Würzburg.
Frage: Herr Seemann – in einem Satz, bitte: Was ist Blockchain?
Michael Seemann: Blockchain ist der Versuch, Services im Digitalen anzubieten, die ohne Server – also ohne zentrale Speicherung im Netz – auskommen.
Für was brauchen wir Blockchain?
Seemann: Für nichts.
Wie bitte? Blockchain ist völlig überflüssig?
Seemann: Na ja, ich sag?s mal so: Es erfüllt keinen technologischen Zweck, den man nicht auch ohne Blockchain bisher schon lange hätte haben müssen. Insofern: Ja, braucht man tatsächlich nicht – es sei denn, man findet es ganz wichtig, dass es keine Server mehr gibt.
Das heißt also: Kryptowährungen wie Bitcoin braucht man auch nicht. Oder?
Seemann: Nein, braucht man auch nicht.
Haben Sie Bitcoin?
Seemann: Ich habe tatsächlich mal welche geschenkt bekommen. Aber ich habe sie seither nicht benutzt.
Über Sie ist zu lesen, dass Sie genervt sind von dem Hype um Blockchain. Warum genau schwimmen Sie gegen den Strom?
Seemann: Es stört mich, dass eine Notwendigkeit behauptet wird, die nicht gut begründet ist und die es meiner Ansicht nach nicht gibt.
Wer hat denn ein Interesse daran, den Hype um Blockchain zu befeuern?
Seemann: Da stecken viele Leute dahinter, die das pushen möchten – aus unterschiedlichen Motiven. Angefangen hat es mit dem Phantom Satoshi Nakamoto, dem Bitcoin-Gründer. Ich unterstelle ihm keine böse Absicht. Ich denke, er glaubte ganz sicher daran, dass wir ganz dringend ein Finanzsystem brauchen, das ohne Banken auskommt. Deswegen hat er sich das ausgedacht. Er ist nicht der Einzige, der so dachte. Es gibt eine ganze Community, die nannten sich damals die Cypherpunks oder Krypto-Anarchisten. Sie hatten die Idee von einer Gesellschaft, die ohne Institutionen, ohne Staat und ohne Banken auskommt. Aus dieser Ideologie heraus wurde Bitcoin geschaffen und kommt die Idee von Blockchain.
Verfolgen wir diesen Gedanken weiter. Angenommen, Blockchain wird doch die große, weltverändernde Nummer: Haben wir dann wirklich keine Staaten und Banken mehr?
Seemann: Die große Ideologie hinter Blockchain ist die sogenannte Trustlessness, also das Nicht-Vorhandensein von Vertrauen. In einer Gesellschaft braucht man Vertrauen, wenn man Leute überzeugen will, gemeinsam zu handeln. Da entsteht das Problem, dass sich Leute vertrauen müssen, die sich gar nicht kennen. Das haben wir in unserer Gesellschaft dadurch gelöst, dass wir Institutionen geschaffen haben. Wir haben also Unternehmen, Staaten und Parlamente gegründet. Die Krypto-Idee dagegen ist, dass dieses gegenseitige Vertrauen in die Institutionen völlig unbegründet ist. Diese Institutionen werden als Machtinstrumente angesehen, die uns alle nur unterdrücken – deswegen müssen wir sie loswerden. Demnach müssen wir zu einer Gesellschaft kommen, in der durch mathematische, beweisbare Algorithmen dieses Vertrauen abgelöst wird.
Als vor 20 Jahren das Internet alltagstauglich wurde, sagten Kritiker auch: Das wird überschätzt, es wird alles anders kommen als vorhergesagt. Sind wir beim Thema Blockchain heute an einer ähnlichen Stelle?
Seemann: Das Internet und das Web haben von Anfang an nützliche Anwendungen gebracht, die echte Menschen dazu genutzt haben, um echte Probleme zu lösen. Das hat Blockchain bisher noch nicht gemacht. Das Einzige, was Blockchain bislang geschafft hat, sind reine Finanz-Hypes, bei denen Leute ganz viel Geld in Dinge stecken, die sie nicht verstehen und weil sie hoffen, dass sie irgendwann mehr Geld rausbekommen als die Leute, die vorher Geld da reingesteckt haben. Das sind alte Pyramidensysteme, die wir zum Beispiel von den Kettenbriefen kennen. Das ist also keine nützliche Anwendung, sondern nur die Ausnutzung des menschlichen Triebes nach Geld.
Fälschungssicherer Datenverkehr und sich selbst erfüllende Verträge, Smart Contracts also, werden als Vorzüge von Blockchain gesehen. Wird auch das alles nur eine Vision bleiben?
Seemann: Es gibt in der Tat schon Anwendungen für diese Smart Contracts. Aber noch keine, die irgendeinen Sinn hat dahingehend, dass sie ein Problem löst, das wir bisher noch nicht haben lösen können. Die bisher populärste Anwendung von Smart Contracts sind die sogenannten CryptoKitties. Das sind virtuelle Katzen, die man auf einer Webseite kaufen und verkaufen kann. Das ist ein reines Spiel, bei dem Leute plötzlich viel Geld ausgeben.
Gerade die Bankenwelt ist sehr nervös geworden wegen Blockchain und Kryptowährungen. Ist das eine passende Reaktion? Sollten sich die Geldhäuser wirklich wappnen, wenn Blockchain doch den Durchbruch schafft?
Seemann: So weit ich weiß, ist diese Nervosität wieder abgeklungen. Goldman Sachs zum Beispiel hat da sehr viel investiert, seine Blockchain-Projekte aber wieder fallenlassen. Was zum Kursverfall von Kryptowährungen in den vergangenen Tagen beigetragen hat. Da war am Anfang natürlich Neugierde an Blockchain da. Man sollte als Bank selbstverständlich immer schauen, was es für Innovationen gibt. Aber am Ende wirkte die Bedrohung durch Blockchain wohl doch nicht so groß.
Mittlerweile besorgen sich Jungunternehmen das notwendige Startkapital nicht mehr von klassischen Geldgebern, sondern legen dazu eigene Kryptowährungen auf. Was ist davon zu halten?
Seemann: Das sind diese Pyramidensysteme, von denen ich vorhin gesprochen habe. Es wird versprochen, dass es etwas gibt, das einen Wert haben wird. Deswegen werden Leute animiert, darin zu investieren. Dieses Versprechen ist aber an nichts anderem festzumachen, als dass man sagen kann: Bitcoin, Ether, Ethereum – da hat das auch geklappt. Wo da ein Wertzuwachs geschaffen wird, das bleiben die Leute schuldig. Im Vergleich dazu etwa Aktien: Da gibt es ein Unternehmen, das macht ein Produkt, das gekauft wird – diesen Gegenwert, diese Werterzeugung gibt es in der Blockchain-Welt nicht.
Gehen wir mal einen Schritt weg von Blockchain und Bitcoin, hin zu Digitalisierung und zu allem rund um 4.0 – noch so ein Hype. Was halten Sie davon?
Seemann: Das ist ein weites Feld. Im Endeffekt geht es um die Automatisierung innerhalb der Industrie. Darüber reden wir ja aber schon lange, im Grunde seit der Automatisierung des Webstuhls. Es ist natürlich ein Trend, der nicht abbrechen und durch immer intelligentere Computersysteme immer weiter voranschreiten wird. Doch diesen Trend gibt es nicht erst seit gestern, sondern seit ungefähr 200 Jahren.
Digitalisierung in der aktuellen Definition heißt, Daten zu sammeln, aufzubereiten und mit Hilfe von Vernetzung klug einzusetzen. Hat die Unternehmenswelt das in seiner ganzen Tragweite verstanden?
Seemann: Das kann ich nicht beurteilen, denn ich bin in der Industrie nicht besonders gut vernetzt. Was Datensammlung und Optimierung von Prozessen aufgrund von Daten angeht, das ist die alte Idee des Taylorismus, der Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen gesteuerten Arbeitsabläufen die Welt revolutionierte. Das ist auch nicht neu.
Vernichtet die Digitalisierung Arbeitsplätze?
Seemann: Das ist eine große Frage. Natürlich verändert sie Jobs, natürlich werden bestimmte Stellen gekürzt. In der Vergangenheit haben wir aber immer wieder gesehen, dass auch neue Stellen in anderen Bereichen geschaffen werden. Die Frage ist nicht, ob Jobs wegfallen – denn das ist auf jeden Fall so. Vielmehr geht es darum, ob genügend gute Jobs durch die Digitalisierung nachwachsen. Die Frage ist auch, ob die Maschinen irgendwann intelligent genug und in allem überlegen sein werden, so dass es keine Arbeit mehr gibt, die Menschen noch machen können. Davon sind wir noch ein Stück weit entfernt.
Auf der einen Seite die Digital Natives, die Freaks, die Durchdigitalisierten – auf der anderen Seite Menschen, die mit dem Internet nichts anfangen wollen und nicht mal einen Computer oder ein Smartphone haben: Driftet unsere Gesellschaft auseinander?
Seemann: Ich denke schon, dass unsere Gesellschaft auseinander driftet, aber in vielerlei Hinsicht. Zum Beispiel auch in politischer. Hype versus Verweigerung: Beides ist falsch. Man muss sich kritisch mit den Dingen beschäftigen. Man muss aber auch aus den Hypes die Luft rauslassen. Und man muss aus dem kulturpessimistischen Kreis herauskommen. Denn wir müssen vorankommen, wir müssen den Wohlstand, der daraus möglich ist, nutzen.
Dem berühmten Otto Normalverbraucher wird nachgesagt, dass er gar nicht weiß, was mit seinen Daten tagtäglich geschieht. Haben wir die Kontrolle über unsere Daten verloren?
Seemann: Ich würde schon sagen, dass die meisten Menschen keine Kontrolle oder kein Gefühl der Kontrolle haben.
Sollten sie es haben?
Seemann: Es wäre trügerisch, es zu haben. Man sollte eher davon ausgehen, dass man die Kontrolle nicht hat.
Wenn man das auf die Spitze treibt, könnte man ja sagen: Wozu dann Datenschutz?
Seemann: Das wäre auch ein Fehlschluss. Ich glaube, dass bestimmte Datenschutzgesetze definitiv eine Rolle spielen können – beispielsweise bei Transparenzpflichten. Also Datenschutzgesetze, die zumindest in Einzelfällen hilfreich sind, bestimmte Gefahren abzuwenden oder bestimmte Rechte durchzusetzen.
Michael Seemann
Der 41-jährige Berliner ist Blogger mit eigenem Podcast, Kulturwissenschaftler, Autor und Journalist, der sich seit Jahren kritisch mit der digitalen Zukunft auseinandersetzt. Neben Blockchain sind Datenschutz, Datenkontrolle und Netzpolitik seine tragenden Themen. Dazu hält er bundesweit Vorträge. Am Donnerstag, 27. September, wird Seemann bei der Konferenz mainIT in Eibelstadt (Krick Verlag) über „Die drei Missverständnisse des Blockchain-Hypes“ sprechen. Außerdem geht es bei mainIT (10 bis 16 Uhr, Anmeldung: www.main.it) unter anderem um Künstliche Intelligenz, Datensicherheit und smarte Technologie anhand von Beispielen aus Mainfranken.
Auch die Rockenstein AG in Würzburg bietet eine Infoveranstaltung an. Am Dienstag, 25. September (16 bis 18 Uhr), geht es um die Frage, welche Risiken und Chancen Blockchain für den Mittelstand hat. Anmeldung: www.rockenstein.de/blockchain aug
Wichtige Begriffe
Blockchain: Bei Anwendungen im klassischen Internet liegen die Daten zentral auf Servern – und nur dort. Bei Blockchain hingegen werden die Daten zeitgleich und in identischen Versionen auf Tausenden Rechnern gespeichert. Sie gelten damit als fälschungssicher, weil die Änderung einer Version eine Kettenreaktion hin zu den anderen Rechnern auslösen müsste – was kaum machbar ist. Blockchain gewährleistet zudem, dass Transaktionen – also zum Beispiel Überweisungen von Geldbeträgen – direkt zwischen Nutzer A und Nutzer B laufen können. Zwischenstation wie Banken werden hier überflüssig.
Bitcoin: Geld ohne Scheine und Münzen, das abseits der Banken digital im Umlauf ist. Bitcoin ist die bekannteste der mittlerweile gut 1700 Kryptowährungen weltweit. Andere sind zum Beispiel Ether, Litecoin, IOTA oder Dash. Viele dieser Kunstwährungen basieren auf der Blockchain-Technologie. Wer Bitcoin erfunden hat, ist nach wie vor unklar. Ein gewisser Satoshi Nakamoto – der Name gilt als Pseudonym eines Unbekannten – soll es 2009 gewesen sein.
Smart Contracts: Solche „intelligenten Verträge“ funktionieren über Blockchain. Sie werden automatisch ausgeführt, wenn die digital hinterlegten Bedingungen erfüllt sind. Anwälte, Notare oder Händler braucht es dafür nicht mehr. Beispiel: Die Gebühren für einen Parkplatz sind in der Blockchain hinterlegt. Wird ein Auto auf diesem Parkplatz abgestellt, wird sofort die Bezahlung automatisch und ohne Zutun des Fahrers ausgelöst.
Digitalisierung, Industrie 4.0: Kern der „vierten industriellen Revolution“ (Industrie 4.0) ist es, Daten – zum Beispiel in einer Fabrik – zu erfassen, Geräte miteinander digital zu vernetzen und diese Datenflut dann klug („smart“) auszuwerten. Als erste industrielle Revolution (18. Jahrhundert) gilt der Einsatz von Wasser- und Dampfkraft, als zweite die Einführung von Fließbändern (19. Jahrhundert) und als dritte der Einsatz von Elektronik und (nicht miteinander vernetzten) Computern in der Produktion (20. Jahrhundert). Weil die Digitalisierung im Sinne von Industrie 4.0 mittlerweile auch in anderen Bereichen unseres Lebens – zum Beispiel in der Medizin, der Pflege oder im Handwerk – Einzug gehalten hat, liest man den Zusatz „4.0“ auch dort. Internet of Things, Big Data, Künstliche Intelligenz, Virtual und Augmented Reality sind artverwandte Begriffe. aug