Anstatt im vollen Bus mit Maske lieber auf dem eigenen Rad an der frischen Luft zur Arbeit fahren - und das dank eines E-Bikes mit Tretunterstützung (Pedelec) auch noch bequem. Dafür entscheiden sich besonders seit 2020 immer mehr Menschen. Die Fahrradbranche könnte einer der großen Corona-Gewinner sein. Doch die hohe Nachfrage stellt die Hersteller vor Lieferprobleme, weil die Industrie die notwendigen Rohstoffe und Teile nicht mehr erhält. Drei Fahrrad-Experten informieren über aktuelle Lieferzeiten und die Entwicklung der Räder. Wird das normale Fahrrad bald ausgedient haben?
Noch vor ein paar Jahren galten Fahrräder mit Tretunterstützung als "Rentner-Räder" oder als Nischenprodukt für Menschen mit einem Handicap, sagt Felix Schmitt. Er betreibt in Würzburg und Höchberg die Fahrradläden FX Sports. Inzwischen aber würden sie gerade auch junge und sportliche Radfahrerinnen und -fahrer ansprechen. Viele hätten durch E-Bikes den Spaß am Fahrradfahren wiederentdeckt. Bernd Lesch ist Geschäftsführer der Firma Pierer E-Bikes Deutschland, die in Schweinfurt Räder der Marken Husqvarna, R Raymon und GASGAS produziert. Er sieht den Boom bei den Pedelecs vor allem durch deren Mehrwert ausgelöst: Das Fahren mache Spaß, man müsse sich trotzdem bewegen, mache etwas für die Gesundheit und habe eine größere Reichweite. Zudem sei die Zielgruppe enorm gewachsen. Mittlerweile gebe es E-Bikes in allen Kategorien - etwa als Mountainbike oder Rennrad.
Seit 2020 seien in Deutschland etwas mehr als fünf Millionen Fahrräder verkauft worden. Zwei Millionen davon seien Pedelecs gewesen. Obwohl also mehr normale Fahrräder nachgefragt wurden, werde deren Marktanteil weiter sinken, sagt Ernst Brust. Der Schweinfurter war unter anderem technischer Leiter bei den Fahrradbauern Winora in Sennfeld (Lkr. Schweinfurt) und bei Fischer in Karlsruhe. Außerdem gründete Brust das Prüfinstitut Velotech, das heute sein Sohn leitet. Daneben ist er technischer Geschäftsführer beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV). Von den Stückzahlen her würden E-Bikes schon heute in der Produktion bei Pierer in Schweinfurt die Hälfte ausmachen, sagt Bernd Lesch. Da sie viel teurer seien, würden sie den Umsatz dominieren. Obwohl er mit seinem Team aus dem Sportbereich komme, seien auch in seinen Läden mittlerweile über 50 Prozent der verkauften Fahrräder Pedelecs, also Fahrräder mit elektrischer Tretunterstützung, sagt Felix Schmitt. Allerdings rechnet der ZIV für das Jahr 2021 mit einem leichten Rückgang der Pedelec-Verkaufszahlen. Das liege aber nicht an der ungebrochen hohen Nachfrage, sondern schlicht daran, dass nicht genügend Räder produziert und ausgeliefert werden könnten, so Ernst Brust.
"Wir werden an den normalen Fahrrädern festhalten", sagt Lesch. Jugendliche müssten auch künftig für 400 oder 500 Euro ein neues Rad bekommen können. Vor allem bei Kinderrädern seien die E-Bikes noch ein Nischenprodukt, sagt Schmitt. Hier dominiere das normale Rad, auch wenn es E-Bikes bereits ab sechs Jahren gebe. Lesch geht davon aus, dass künftig noch ein bis zwei Millionen normale Fahrräder im Jahr verkauft werden. Nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, auch im Großstadtverkehr würden sie den E-Bikes nach wie vor vorgezogen.
Alle drei Experten gehen davon aus, dass die Preise schon im nächsten Jahr weiter ansteigen dürften. Brust rechnet mit Preissteigerungen von 15 bis 25 Prozent. Laut Lesch liegt das aber keineswegs nur an der hohen Nachfrage, sondern auch an gestiegenen Materialkosten für Aluminium und Karbon.
Wer im nächsten Frühjahr auf einem neuen E-Bike unterwegs sein wolle, der sollte sich schon jetzt umschauen, sagt Ernst Brust. Entweder man finde ein Modell aus diesem Jahr oder bestelle ein neues Modell, das dann rechtzeitig zur neuen Fahrradsaison geliefert werden könne. Wer nächstes Jahr im März ein neues Rad haben möchte, sei eher zu spät dran, sagt hingegen Bernd Lesch. Die Lieferprobleme würden mindestens im ersten Quartal 2022 noch anhalten. Dennoch sei es falsch zu glauben, es gebe derzeit keine E-Bikes zu kaufen. Die Auswahl freilich sei eingeschränkt. Auch Schmitt empfiehlt, sich jetzt in den Läden umzuschauen und ein vorhandenes Fahrrad zu nehmen, auch wenn es nicht in allen Details den Wünschen entspreche.
Zum einen habe schon 2020 die Nachfrage das Fahrradangebot weit überschritten, sagt Ernst Brust. Die Industrie habe zwar mit steigenden Verkaufszahlen gerechnet und 120 Prozent mehr Ersatzteile bestellt, doch das habe nicht gereicht. Vor allem Rahmen und Gabeln sowie die kostengünstigen Akkus aus Asien würden aktuell in der Produktion fehlen. Dievorübergehende Sperrung des Suezkanals habe die Situation weiter verschärft. Corona habe Lieferketten gestört, sagt Lesch. So würden immer wieder Teile fehlen. Ein Fahrrad bestehe aus 786 Einzelteilen. Für viele davon gebe es nur wenige Anbieter. Sei einer ausverkauft, würden sich alle Produzenten auf den nächsten stürzen - und seine Vorräte schnell aufkaufen.
Das sei durchaus möglich, sagt Felix Schmitt. Einige Ersatzteile hätten zehn bis 14 Monate Lieferfrist. In Einzelfällen müsse geprüft werden, ob ein Ersatzteil ohne Sicherheitsrisiko bis zur Lieferung eines neuen Ersatzteils genutzt werden könne. Schmitt empfiehlt, Wartungen an Rädern von Oktober bis Februar vornehmen zu lassen. Dann seien die Werkstätten weit weniger belastet.
Man werde sich bei der Anschaffung eines E-Bikes, genauso wie beim Autokauf, auf Lieferzeiten einstellen müssen, sagen Lesch und Brust. Doch die Händler sehen es noch kritischer. Felix Schmitt sagt, er warte noch immer auf Räder, die er vor über einem Jahr bestellt habe. Oder er bekäme von einem Modell, von dem er zehn Exemplare geordert habe, nur zwei geliefert. Bei einigen Modellen gebe es Lieferzeiten von bis zu eineinhalb Jahren. So habe er auf die Ausschreibung für Dienstfahrräder einer Behörde gar nicht erst reagiert, weil er die dort gewünschten Räder nicht rechtzeitig hätte ausliefern können. Die Lager der Händler seien leer. Alle vorhandenen Räder stünden in den Verkaufsräumen.
Zu mehr Reichweite und weniger Gewicht, sagt Bernd Lesch. Doch beides werde kaum zugleich möglich sein. Schon jetzt hätten E-Bikes von ursprünglich 24 bis 26 Kilogramm auf durchschnittlich 19 Kilogramm abgespeckt. Zugleich habe sich die maximale Akkuleistung von 300 auf über 800 Wattstunden fast verdreifacht. Bei einer durchschnittlichen Fahrt mit halber Unterstützung entspricht dies einer Steigerung der Reichweite von zirka 50 auf 150 Kilometer. Wobei die tatsächliche Reichweite stark vom Grad der gewählten Unterstützung, den überwundenen Höhenmetern und auch vom Gewicht des Fahrers abhängt. Doch je mehr Leistung ein Akku habe, desto mehr wiege er auch. Und auch die Elektromotoren würden mit der Leistung an Gewicht zunehmen. Der Kunde müsse entscheiden, ob er ein etwas schwereres Tourenrad mit großer Reichweite, oder ein leichteres Mountainbike möchte, sagt Lesch. "Leichter und günstiger wäre schön", sagt Fahrradhändler Felix Schmitt: Doch vor allem letzteres dürfte der Markt so schnell nicht hergeben.
Mikromobilität nennt man die Mobilität mit elektrischen Kleinstfahrzeugen auf Kurzstrecken bis 100 Kilometer. Neben elektrischen Tretrollern gehören dazu auch zunehmend E-Bikes. Die Entwicklung stehe ganz am Anfang, sagt Ernst Brust. Es gehe jetzt erst richtig los. Zum Beispiel mit Lastenfahrrädern oder Dienst-E-Bikes. Auch seine Firma werde Lastenfahrräder entwickeln, sagt Bernd Lesch. Handhabung und Preisniveau müssten hier aber stimmen, da sei noch viel Entwicklungsarbeit nötig. In seinem Würzburger Laden verkauft auch Schmitt inzwischen Lastenräder. Noch sei das eine Nische, aber er habe schon erste Kunden gehabt, die ein Auto oder zumindest den Zweitwagen durch ein Lastenfahrradersetzt hätten.