Seit Dezember 2014 gibt es das Zentrum für Seltene Erkrankungen, kurz ZESE, am Universitätsklinikum Würzburg. Dort finden Menschen mit ungeklärten oder gänzlich fehlenden Diagnosen Hilfe. Es ist das Referenzzentrum für Nordbayern. Professor Helge Hebestreit, Vorstandsmitglied und Sprecher des ZESE, zieht zum Tag der Seltenen Erkrankungen, der heuer aufgrund des Schaltjahres am 29. Februar stattfindet, eine erste Bilanz.
Helge Hebestreit: Ganz im Gegenteil. Die Resonanz war sehr hoch, höher als wir erwartet haben. Allein im Hauptzentrum, dem ZESE, das für ganz Nordbayern zuständig ist, hatten wir bis einschließlich Oktober 2015 rund 270 Anfragen. In den beteiligten Unterzentren am Uniklinikum Würzburg wurden über 3000 Patienten betreut.
Hebestreit: Generell gilt eine Erkrankung als selten, wenn es unter 10 000 Menschen nicht mehr als fünf Betroffene gibt. Schätzungen zufolge leiden in Deutschland aber rund vier Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Das ist jeder Zwanzigste, also nicht so wenig. Es dürfte sogar noch mehr Betroffene geben. Bei diesen ist die Frage noch nicht geklärt, ob ihre Symptome auf eine seltene Erkrankung zurückzuführen sind oder nicht, und – wenn ja – welche Erkrankung es überhaupt ist.
Hebestreit: Unser Dachzentrum ist die übergeordnete Anlaufstelle, die Schnittstelle für alle Patienten im großen Dschungel der seltenen Erkrankungen. Manchmal bleibt es bei einer Anfrage oder einem Kontakt. Ein anderes Mal hilft eine persönliche Empfehlung weiter, wohin man sich wenden kann. Deutschlandweit gibt es etwa 25 Zentren wie das ZESE, die zusammenarbeiten. Sehr wichtig ist hier auch die Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe – und für das ZESE ganz besonders auch mit dem Würzburger Arbeitskreis Seltene Erkrankungen.
Hebestreit: Im ZESE werden Patienten vorgestellt, bei denen eine seltene Erkrankung im Raume steht, aber keine Diagnose gestellt wurde. Die Abklärung erfolgt zunächst auf der Basis von Unterlagen und – nach interdisziplinärer Besprechung der Befunde – oft auch durch ergänzende Untersuchungen. Weiter unklare Fälle werden dann in interdisziplinären Besprechungen diskutiert. Etwa 20 bis 25 Experten aus den verschiedenen Kliniken schauen sich die Krankengeschichte an und erarbeiten gemeinsam ein Konzept zur weiteren Abklärung. Das ZESE arbeitet mit allen Bereichen des Uniklinikums und besonders mit seinen krankheitsspezifischen Fachzentren eng zusammen. Patienten mit bestimmten Diagnosen werden in den Fachzentren direkt behandelt.
Hebestreit: Diese interdisziplinäre Arbeitsweise zeichnet das Würzburger ZESE aus. An der Behandlung von seltenen Erkrankungen sind oft mehrere Fachdisziplinen beteiligt, denn häufig besteht eine Kombination aus verschiedenen Krankheitssymptomen beziehungsweise ein Befall mehrerer Organe.
Andere Fachzentren für Seltene Erkrankungen in Deutschland sind nicht selten nur eine Fortführung dessen, was es ohnehin schon gab: eine Spezialambulanz in der Klinik für Neurologie zum Beispiel oder in der Klinik für Hauterkrankungen.
Hebestreit: Es ist leider oft nicht leicht für die Betroffenen, den richtigen Ansprechpartner zu finden. Immer wieder kommen zu uns Menschen, die häufig jahrelang von A nach B nach C geschickt wurden. Nicht zu wissen, was man eigentlich hat, ist sehr belastend.
Hebestreit: Häufig wird Menschen mit seltenen Erkrankungen nicht geglaubt, dass sie krank sind. Sie gelten als Simulanten. Dann heißt es: ,Stell dich doch nicht so an!‘ Das ist eine zusätzliche Belastung, die psychosomatische Beschwerden auslöst. Allein wenn wir in Betracht ziehen, dass die Menschen, die zu uns kommen, tatsächlich unter einer seltenen Erkrankung leiden könnten, nimmt das den Druck ein Stück weit weg. Wir versuchen natürlich allen Patienten zu helfen, auch wenn wir keine Diagnose finden. Wenn wir aber für ihr Problem einen Namen haben, ist das eine große Erleichterung.
Hebestreit: Für die meisten Erkrankungen gibt es sicher nicht die magische Pille, aber wenn klar ist, wie eine Krankheit entsteht, wird versucht spezifische Therapien zu finden. Maßgeblich dabei ist bei vielen Erkrankungen wie der Hypophosphatasie, defekte Eiweißstoffe zu ersetzen oder eine gestörte Funktion wieder herzustellen beziehungsweise günstig zu beeinflussen. Dieses Konzept gilt auch für manche andere Stoffwechselerkrankungen. Früher war ein solches Vorgehen noch nicht möglich, weil man die Gesamtzusammenhänge nicht verstanden hatte.
Hebestreit: Durch besseres Krankheitsverständnis und moderne Techniken ist die Medikamentenentwicklung heute gezielter und schneller möglich. Auch das Verfahren zur Zulassung für ein Medikament für seltene Erkrankungen ist einfacher als für Medikamente gegen eine Volkskrankheit. Zudem ist der Patentschutz länger, das heißt, man kann länger daran verdienen. Das wiederum führt dazu, dass mehr über seltene Krankheiten geforscht wird – nicht nur, aber auch von Seiten der Pharmafirmen.
Hebestreit: Mit einer Gentherapie wäre sicher die Ursache bei vielen seltenen Erkrankungen bei der Wurzel gepackt. Es gibt bereits viele Versuche, leider auch viele Rückschläge. Bei Mukoviszidose ist das Gen 1989 entdeckt worden. Damals wurde prognostiziert, dass es spätestens bis 1999 eine Gentherapie geben würde – also eine Heilung. Das hat nicht funktioniert. Bislang gibt es eine einzige Studie aus England, die belegt, dass eine Gentherapie überhaupt etwas bringen könnte. Sie hat aber bisher nur genauso viel Wirkung gezeigt wie alle Medikamente, die wir bereits haben.
Helge Hebestreit
Der Arzt für Kinder- und Jugendmedizin ist stellvertretender Direktor der Kinderklinik und Poliklinik der Würzburger Universität sowie Leiter der Pädiatrischen Pneumologie, Allergologie und Mukoviszidose. Er gehört dem Vorstand des im Dezember 2014 gegründeten Zentrums für Seltene Erkrankungen an. cj/Foto: Uniklinik