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WÜRZBURG
Tag der seltenen Erkrankungen: Der lange Weg zur Diagnose
Seltene Erkrankungen: Etwa 8000 Krankheiten gelten als selten. Betroffene werden die „Waisen der Medizin“ genannt. Mit dem Tag der seltenen Erkrankungen sollen ihre Nöte mehr in den Fokus gerückt werden. Zwei Frauen aus Unterfranken erzählen.
Seltene Erkrankungen: Der lange Weg zur Diagnose       -  In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung.
Foto: Thinkstock (Bildbearbeitung: Klante) | In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 27.04.2023 01:13 Uhr

Dieses Wort ärgert Sabine Pfeuffer noch heute. „Puddingtante!“ Als Kind hörte sie es oft. Auch ein Satz hat sich der 55-Jährigen ins Gedächtnis gebrannt: „Stell' dich nicht so an!“ Immer wieder wurde ihr gesagt, sie würde sich nicht genug anstrengen oder sogar simulieren. Warum Sabine Pfeuffer Schwierigkeiten bei den Turnübungen hatte, wusste sie damals nicht. Da sie häufig krank war, galt sie als schwächlich, erzählt sie im Gespräch mit dieser Redaktion.

Roswitha M. (Name ist der Redaktion bekannt) nickt. Die 68-Jährige aus dem Landkreis Würzburg kennt diese Unterstellungen. Auch sie hatte keine unbeschwerte Kindheit, war ebenfalls oft krank. Beim Sportunterricht saß sie auf der Bank, schaute den anderen zu. Beim Rennen war sie die „lahme Ente“. Schlittenfahren bereitete ihr Angst. „Ich war die Außenseiterin.“

Erkrankung lange nicht erkannt

Jahre später, längst erwachsen geworden, habe ihr Hausarzt zu ihr gesagt, sie solle halt ins Fitnessstudio und trainieren. Dass eine Erkrankung der Grund für ihre „Schwäche“ sein könnte, wurde ebenfalls wie bei Sabine Pfeuffer lange Zeit nicht erkannt.

Die Frauen leiden an neuromuskulären Erkrankungen. Sabine Pfeuffer unter der Myotonen Dystrophie Typ 2, kurz DM2. Roswitha M. unter Fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie, kurz FSHD. Beide Erkrankungen sind selten und haben genetische Ursachen. Bei DM2 beträgt die Häufigkeit in Deutschland nur ein Patient auf 10 000 Geburten. FSHD ist noch seltener mit einem Erkrankten auf 20 000 Einwohnern.

Kennengelernt haben sich Sabine Pfeuffer und Roswitha M. über die Sozialberatungsstelle im bayerischen Landesverband der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke. Diese ist am Institut für Humangenetik der Universität Würzburg angesiedelt und gehört zum Neuromuskulären Zentrum der Universität. Angelika Eiler hat die Beratungsstelle vor 20 Jahren aufgebaut. Seither unterstützt sie dort betroffene Menschen in Unter- und Oberfranken. „Zurzeit sind es etwa 400 Familien“, so Eiler, „oft sind mehrere Familienmitglieder von derselben Muskelerkrankung betroffen“.

Beschwerden erst im Erwachsenenalter

Das bestätigt auch Sabine Pfeuffer. „Meine Mutter hat sehr gelitten und lange Zeit keine Diagnose.“ Bei ihr traten die Beschwerden erst als Erwachsene auf, „aber es gab viele Parallelen zu mir und meinen Problemen, die ich bereits als Kind hatte.“ Die Muskelerkrankung ihrer Mutter wirkte sich auf Beweglichkeit und Herz aus. Das Treppensteigen fiel ihr schwer, das Aufstehen, wenn sie im Bett lag oder längere Zeit auf einem Stuhl saß. Hinzu kam eine hohe Tagesmüdigkeit. „Sie entwickelte eine Depression. Letztlich starb sie an Herzversagen“, erzählt ihre Tochter. Auch einige der Geschwister ihrer Mutter hatten Herzprobleme. „Sie sind jedoch nie diagnostiziert worden.“

Angelika Eiler spricht von einer großen Bandbreite bei den Symptomen innerhalb der Muskelerkrankungen. Rund 800 Formen sind bekannt. Der Krankheitsverlauf ist nicht zwingend gleich und bei einzelnen Erkrankungen „multisystemisch“. Das heißt, es können neben der Muskulatur auch Organe betroffen sein.

Sabine Pfeuffers Erkrankung DM2 wird auch „Proximale Myotone Myopathie, kurz PROMM, genannt. Angelika Eiler erklärt kurz die Begriffe: „Myotonie bedeutet vorübergehende Muskelsteifigkeit, weil nach einer Muskelkontraktion die Erschlaffung verzögert ist; Dystrophie steht für Muskelabbau und proximal bedeutet zum Rumpf hin verlaufend – etwa zum Beckengürtel und zur Lendenwirbelsäule.“ Unabhängig vom Muskel kann sich nach Angaben von Angelika Eiler auch die Augenkrankheit Grauer Star entwickeln, ein Diabetes mellitus, eine Erhöhung der Fettwerte oder eine Störung der Schilddrüsenfunktion.

Arzt in Würzburg dokumentierte Erkrankung als Erster

PROMM ist seit 1994 bekannt. Erstmals beschrieben wurde diese Form der Muskelerkrankung von Kenneth Ricker in Würzburg. Sie ist deshalb auch noch unter dem Namen „Rickersche Erkrankung“ bekannt. Er war bis 1992 leitender Oberarzt an der Neurologischen Klinik. Angelika Eiler kann sich noch gut an ihn erinnern. „Er war oft mit seiner Videokamera unterwegs, hat Betroffene aufgenommen und unterschiedliche Krankheitsverläufe in Familien dokumentiert.“

Experten erkennen PROMM bereits an der Art, wie sich die Betroffenen bewegen. „Sie haben das auch!“, sagte ein Arzt zu Sabine Pfeuffer. Sie begleitete ihre Mutter ins Freiburger Uniklinikum. Dort fand die jahrelange Suche nach den Ursachen für die Beschwerden ein Ende. Die Mutter erhielt ihre Diagnose. Die Tochter, die heute in Würzburg lebt, ebenso – „durch Zufall“. Damals war sie 45 Jahre alt. „Der Arzt hat es an meinem Gang gesehen.“ Dann sollte sie auf einen Stuhl steigen, doch das konnte sie nicht. „Hohe Treppenstufen konnte ich schon mit Anfang 30 nicht mehr gut bewältigen.“ Auch aus der Hocke kam Sabine Pfeuffer nur mühsam wieder in den Stand. Mit der Diagnose hatten ihre Beschwerden, die ihr Leben zunehmend beeinträchtigt haben, endlich einen Namen bekommen. „Dies ist sehr wichtig für die Betroffenen“, sagt Angelika Eiler.

Zufällige Diagnose

Auch Roswitha M. spricht von einer zufälligen Diagnose ihrer FSHD. Das war 1995. Sie begleitete ihren Sohn, der Knieprobleme hatte, zum Orthopäden und sprach bei dieser Gelegenheit ihre ständigen Rückenschmerzen an. „Der Arzt hat sofort meine Muskelerkrankung erkannt.“ Nun war auch klar, was die Ursache ihrer ebenfalls schon längere Zeit auftretenden Augenprobleme ist. „Wenn ich mich angestrengt auf etwas konzentriert habe, wurden plötzlich meine Lider schwer.“ Das passiert bis heute, zum Beispiel beim Zeitunglesen. „Ich rutschte dann in die falsche Zeile.“

Ihre Arme kann sie aufgrund von Schmerzen und gerissenen Sehnen nicht mehr gut und lange heben. In ihren Schränken befinden sich deshalb die leichten Haushaltsgegenstände in den oberen Fächern, die schweren unten. Das Laufen ist ebenfalls eingeschränkt, auf die Leiter steigen unmöglich. „Seit ich mir bei einem Sturz einen Wirbel gebrochen habe, benutze ich den Rollator.“ Mehr als 100 Meter kann sie jedoch nicht laufen. Auch für die Wohnung hat sie zusätzlich einen kleineren und leichten Rollator angeschafft.

Hinzugekommen ist im Lauf der Jahre noch eine „schwache Blase“. Oft ist es schwierig, schnell genug eine Toilette zu erreichen. Roswitha M. erzählt, dass sie sich immer wieder für ihre Beeinträchtigungen geschämt hat und teilweise immer noch schämt. Glücklich ist sie über ihr neues Fahrzeug – ein Elektroscooter, den sie anstelle eines Rollstuhls nutzt. „Mit meinem Scooter hat sich mein Aktionsradius vergrößert. Ich sehe wieder andere Dinge in meiner Straße und mehr Leute.“

Erkrankungen sind fortschreitend

Die Diagnose und die darauf abgestimmte Therapie hilft den beiden Frauen jedoch nicht gegen die vielen weiteren „Fallstricke“ im täglichen Leben. Die Erkrankungen sind progredient, fortschreitend.

„Mir fallen plötzlich Dinge aus der Hand oder ich kann nicht mehr loslassen“, schildert Sabine Pfeuffer ihre stärker werdenden Beschwerden. Kürzlich wollte sie mit dem Fernbus verreisen, konnte jedoch nicht einsteigen. Auch die erhöhten Straßenbahnhaltestellen kann sie nicht bewältigen. „Ich muss schauen, wo der Bordstein abgeflacht ist.

“ Als sie ein Geschäft betreten wollte, stürzte sie zu Boden und kam nur mit Hilfe eines Stuhls, an dem sie sich hochzog, wieder auf die Beine. „Die Leute wollten mir helfen, aber wenn mich jemand am Oberarm anpackt, ist das für mich sehr schmerzhaft.“

Roswitha M. erinnert sich mit Schrecken, als sie alleine zu Hause an der Nähmaschine saß und nicht mehr aufstehen konnte. Häufig wird sie auch von Schwindel geplagt. Aus dem Bett kommt sie nur, wenn sie „Schwung holt“. Demnächst will sie ins Theater. Sie freut sich, spricht aber auch von einer Herausforderung. „Ich muss vorher wissen, wo die Toiletten sind und ob ich gut hinkomme.“ Längere Urlaubsreisen traut sie sich nicht mehr zu, obwohl ihr Mann sie unterstützt, wo er kann.

Sabine Pfeuffer lebt nach dem Tod ihres Mannes alleine und hat sich einen „sehr strukturierten Tagesablauf“ angewöhnt. Sie will so lange wie möglich unabhängig bleiben. „Aber mein Körper kommt meinem Kopf nicht mehr hinterher. Ich kann nur wenig spontan und nur noch ein Drittel von einst bewerkstelligen. Das ist frustrierend.“

Angelika Eiler kennt aufgrund ihrer langen Erfahrung mit Muskelkranken deren Sorgen und Nöte sowie die Probleme, die sich im sozialen Umgang ergeben. Sie empfiehlt einen Hausnotruf, erhöhte Toilettensitze oder einen Einlegerahmen fürs Bett. Hilfreich sei auch offen mit seiner Erkrankung umzugehen. „Heilbar sind diese beiden seltenen Erkrankungen nicht, man kann sie nur engmaschig kontrollieren“, sagt Angelika Eiler – mit regelmäßigen Untersuchungen beim Neurologen, Augenarzt, Kardiologen, Internisten und Osteologen. Hinzukommen kommen Physiotherapie, Bewegungsbäder, Blutverdünner, Betablocker, Schmerzmittel. „Medikamente wirken lediglich auf die Symptome.“  

 


 

 

Informationen und Kontakte

Das Motto des diesjährigen Tag der Seltenen Erkrankungen am 29. Februar lautet: „Gebt den Seltenen Eure Stimme!“ An diesem Tag schaffen Betroffene und ihre Selbsthilfevereine, Angehörige, Partner und Dachverbände wie die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) weltweit gemeinsam Öffentlichkeit für die „Seltenen“ und ihre Belange. In Deutschland finden heuer mehr als 30 Aktionen statt. In Würzburg lädt der Arbeitskreis WAKSE zu Vorträgen zum Thema „Forschung für Seltene Erkrankungen“ am Beispiel neuromuskulärer Erkrankungen ab 17 Uhr im Matthias-Ehrenfried-Haus, Bahnhofstraße 4.

Die Psychosoziale Beratungsstelle des Landesverbandes Bayern der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) für Unter- und Oberfranken wird von Angelika Eiler geleitet. Sie gehört zum Neuromuskulären Zentrum Würzburg der Universität; Tel. (09 31) 31 84 074. Ansprechpartnerin der Würzburger Diagnosegruppe innerhalb der DGM ist Sabine Eschelbach-Pfeuffer, Tel. (09 31) 41 58 78; E-Mail: Sabine.Eschelbach-Pfeuffer@dgm.org

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZESE) am Uniklinikum Würzburg ist seit gut einem Jahr das Referenzzentrum für Nordbayern. Kontakt: Tel. (09 31) 201-27 729; E-Mail: ZESE@ukw.de; Internet: www.zese.ukw.de

Der Bayerische Rundfunk berichtet am Tag der Seltenen Erkrankungen an diesem Montag, 29. Februar, am Beispiel des sechsjährigen Dario aus Unterfranken über seltene Krankheiten bei Kindern. Dario leidet an der extrem seltenen Stoffwechselstörung Morbus Sandhoff. Im Radio auf Bayern 1 im Mittagsmagazin zwischen 12.05 Uhr und 13 Uhr und im Bayerischen Fernsehen in der Abendschau ab 17.30 Uhr.

Eine Fotoausstellung der Care-for-Rare Foundation, der Stiftung für Kinder mit seltenen Erkrankungen, will Betroffenen ein Gesicht geben. Die Bilder der Münchner Fotografen Kamer Aktas und Anselm Skogstad zeigen Kinder und deren Familien aus verschiedenen Ländern sowie die alltäglichen Herausforderungen, die das Leben mit einer seltenen Erkrankung prägen. Sie sind auch in der AOK-Geschäftsstelle von 9. bis 20. Mai zu sehen. Internet: www.care-for-rare.org

 
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