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„Ich will, dass der Engel mich holt“
Sterbehilfe: Belgien diskutiert zur Zeit darüber, ob schwerkranken Kindern künftig das Sterben auf Verlangen erlaubt werden soll. Ein Gesetzentwurf wurde ausgearbeitet. Das Projekt ist sehr umstritten.
Detlef Drewes
Detlef Drewes
 |  aktualisiert: 11.12.2019 19:41 Uhr

Nathalie ist 14 Jahre alt. Sie möchte sterben. Am liebsten in den Armen ihrer Eltern. „Bitte machen Sie, dass der Engel kommt und mich endlich holt“, hat sie vor einigen Tagen zu ihrem Arzt gesagt, der sie seit langem in dem Krankenhaus nahe Brüssel wegen des ständig weiter wachsenden Gehirntumors behandelt. „Ich weiß, der Engel wird gut zu mir sein.“ Er habe Tränen in den Augen gehabt, erzählt der Kinder-Onkologe. „Ich möchte ihr so gerne helfen, aber ihr hilft nichts mehr. Warum soll sie nicht sterben dürfen, wenn sie es will?“

Nathalie wird weiter leiden müssen. Erst kurz vor den Wahlen im Mai will das belgische Parlament einen Gesetzentwurf verabschieden, der Sterbehilfe auch an Kindern unter 18 Jahren erlaubt. Seit Monaten spaltet die Diskussion über das Vorhaben das Land. „Warum soll man Kindern, die unheilbar krank sind und unerträglich leiden, nicht die gleichen Möglichkeiten einräumen wie Erwachsenen?“, fragt Jan Bernheim von der Forschungsgruppe Sterbebegleitung der Freien Universität Brüssel. „Es geht darum, dass sie entscheiden dürfen zwischen Sterbehilfe und der Verlängerung der Lebenszeit durch Palliativmedizin“, erklärt der Senatsabgeordnete Jean-Jacques de Gucht, der den Gesetzentwurf ausgearbeitet hat. Zusammen mit 16 führenden Kinderärzten des Landes.

Gerlant van Berlaer ist einer von ihnen. Der 45-jährige Vater von zwei leiblichen und fünf Pflegekindern, sagt offen: „Ich will nicht Gott spielen. Ich will aber auch nicht das Leiden zum Tode geweihter Kinder, für die es keine Behandlung mehr gibt, gegen ihren Willen verlängern müssen.“ „Dr. Tod“ nennen ihn die belgischen Medien seither. Doch der Mediziner bleibt konsequent: Wenn die betroffenen Minderjährigen „Urteilsfähigkeit“ besitzen, „unheilbar krank sind“ und unter „unstillbaren physischen Schmerzen“ leiden, soll der belgische Gesetzgeber ihnen die Möglichkeit zur Sterbehilfe geben. Im Unterschied zu Erwachsenen werden psychische Schmerzen nicht als Grund anerkannt.

Deutlich reifer als Gleichaltrige

Die Autoren der Sterbehilfe-Reform sagen offen, was damit gemeint ist: das bewusste und aktive Eingreifen eines Arztes, der mit seinem Handeln das Leben des Patienten beendet. Dazu zählt die Abgabe von Medikamenten – nicht das Abschalten beispielsweise eines Beatmungsgeräts. Rechtlich handelt es sich dabei nämlich um den Verzicht auf eine Weiterbehandlung, die in Belgien wie auch in Deutschland ohnehin längst erlaubt sind.

„Ein Kind kann in Belgien kein Haus kaufen. Ein Kind kann in Belgien keinen Alkohol kaufen. Dieses Gesetz würde dem Kind aber erlauben, seine Tötung zu fordern“, zeigt Carine Crochier vom Europäischen Institut für Bioethik in Brüssel den Widerspruch auf. Die erfahrenen Mediziner halten dagegen. „Diese Kinder sind nicht so alt, wie der Kalender das zeigt“, meint der Sterbehilfe-Forscher Bernheim. „Sie sind psychologisch älter und reifer als ihr Kalender-Alter.“ Tatsächlich berichten viele Ärzte, die betroffenen Kinder seien angesichts der Auseinandersetzung mit ihrer schweren Krankheit und dem absehbaren Tod deutlich reifer als Gleichaltrige. Deshalb könnten sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte den Wunsch nach ihrem eigenen Tod formulieren. Nathalie hat vor wenigen Tagen ein Bild gemalt: Es zeigt den Engel, wie sie ihn sich vorstellt. Mit langem weißen Gewand, ausgebreiteten Armen und einem warmen Gesicht. Hinter dem Engel tut sich der Himmel auf. Dort hat sie die Worte hineingeschrieben „Dein Schmerz ist zu Ende.“

2002 hat Belgien die aktive Sterbehilfe erlaubt. 1432 Patienten bekamen 2012 die Erlaubnis, durch die Hand eines Arztes aus dem Leben zu scheiden. Das Verfahren ist kompliziert, erfordert mehrere Gutachten von Medizinern und Überprüfungen der Willensäußerung. Am Ende muss eine Kommission entscheiden – bis zu einem Jahr kann sich das Verfahren hinziehen. Und dennoch gibt es scharfe Kritik, nicht nur von Katholiken, Protestanten, Muslimen und anderen Religionsgemeinschaften.

Anspruch auf Begleitung

Das eigentliche Problem der heutigen Gesetzgebung in Belgien ist der Umgang mit der wachsenden Zahl von Demenzkranken, die nicht mehr in der Lage sind, ihren eigenen Willen zu bekunden. Die geplante Reform sollte ihnen den Zugang zu einem „würdevollen Tod“ ermöglichen. Allerdings hätte man auf eine ausdrückliche und voll bewusste Zustimmung des Patienten verzichten müssen. Mit diesem Argument stieß man das Tor zur Euthanasie von Kindern auf, während Erleichterungen für alte Menschen wieder fallen gelassen wurden. „Heute müssen wir die Sterbehilfe bei den Minderjährigen unter absoluter Geheimhaltung ausführen“, berichtet ein Kinderarzt. „Aber so kann nichts nachgeprüft, nachvollzogen und verbessert werden.“

Im Nachbarland Niederlande ist das aktive Herbeiführen des Todes seit einiger Zeit ab dem zwölften Lebensjahr erlaubt, bis 16 müssen die Eltern zustimmen. Danach nicht mehr. Seit 2006 gibt es keinen registrierten Fall mehr, in dem ein Kind die tödliche Hilfe von einem Arzt haben wollte. In Belgien rechnet man dagegen mit zwei bis zehn Fällen pro Jahr. Falls das Gesetz eine Mehrheit im Parlament findet und König Philippe es unterzeichnet. Sein Vater Albert II. hatte 1990 die Reform der Abtreibungsgesetzgebung lange blockiert, weil er sich aus moralisch-ethischen Gründen weigerte, die neuen Bestimmungen zu unterschreiben.

Die Meinung in der Bevölkerung scheint allerdings klar: Bei Umfragen gab es immer wieder eine Mehrheit für die Öffnung der Sterbehilfe auch für Minderjährige. Die anderen sprechen sich stattdessen für eine Ausweitung der Palliativmedizin nach deutschem Vorbild aus. Hierzulande haben Sterbende einen Anspruch auf Begleitung, bei Kindern ist sogar eine Betreuung der gesamten Familie vorgesehen. Denn die kleinen Kranken zeigen sich nach Erkenntnissen von Sterbeforschern auf der letzten Phase ihres Lebenswegs besonders groß: Sie tragen nicht nur die eigenen Schmerzen, sondern auch das Leid der gesamten Familie.

Die erfahrenen Kindermediziner beschreiben betroffen, was sie erleben. So erzählt van Berlaer von einem 15-jährigen Jungen, der mit Knochenkrebs zwei Jahre im Krankenhaus verbringen musste – die meiste Zeit mit großen Schmerzen und auf der Isolierstation. Er wünschte sich schließlich nur noch eines: eine Abschiedsparty mit seiner Freundin, mit den Freunden und Eltern. Danach wollte er allein mit Vater und Mutter sterben dürfen. Doch das Gesetz war dagegen, die Ärzte mussten tun, was sie tun konnten. Als der Tod ihn einige Wochen später erlöste, hatte er seine Freunde nicht mehr wiedergesehen. „Er durfte nicht so sterben, wie er wollte“, sagt sein Arzt. „Das kann nicht richtig sein.“

Sterbehilfe in Europa

Die meisten europäischen Staaten haben aktive Sterbehilfe unter Strafe gestellt – auf eine Stufe mit Mord. Lediglich in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg dürfen Ärzte auf Wunsch des Betroffenen den Tod mit Hilfe von Medikamenten herbeiführen.

Die Beihilfe zur Selbsttötung wird von einigen Ländern – wie zum Beispiel Deutschland – erlaubt. Neben Belgien, den Niederlanden und Luxemburg gilt das auch für die Schweiz und Schweden. Dennoch bleibt sie heftig umstritten, weil sie den beteiligten Arzt in große Schwierigkeiten bringt. Rein rechtlich darf er einem Sterbewilligen nämlich die entsprechenden Medikamente bereitstellen, muss aber eingreifen, wenn der die Präparate einnimmt.

Die indirekte Sterbehilfe wird dagegen mit Ausnahme Polens von nahezu allen EU-Mitgliedstaaten hingenommen. Dabei bekommt der Patient starke Medikamente, die vorrangig zur Schmerzlinderung bestimmt sind, aber die Lebensdauer verkürzen. In Deutschland wie den meisten übrigen Staaten sind dazu eine Willensäußerung des Patienten oder eine gültige Patientenverfügung als Voraussetzung nötig.

Die passive Sterbehilfe gilt dagegen in allen europäischen Ländern (außer Polen) als der gängige Weg, das Leiden eines Sterbenden zu verkürzen. Sie besteht im Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen. Sie wird auch häufig bei jenen angewendet, die keinen ausdrücklichen Willen hinterlassen haben. Ihr Ziel besteht darin, Schwerkranken ein würdevolles Sterben zu ermöglichen, ohne sie zum Spielball der Apparatemedizin zu machen. Viele halten den Begriff passive Sterbehilfe für falsch und bezeichnen den Vorgang als „Sterbenlassen“. Text: Dre

 
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