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WÜRZBURG
Europa – ein Flickenteppich
Viele Regionen kämpfen um die Unabhängigkeit von ihrem Nationalstaat – oft geht es ums Geld. Eine Würzburger Expertin erklärt die Chancen.
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 07.11.2019 19:48 Uhr

Schon bald könnte Europa wieder einmal sein Gesicht verändern. Weniger dramatisch als nach den Weltkriegen oder dem Fall des Eisernen Vorhangs zwar, aber doch merklich. Am 18. September stimmen die Schotten darüber ab, ob sie sich von Großbritannien lossagen wollen. Wenige Wochen später könnte Ähnliches in Spanien passieren: Am 9. November will die Regionalregierung Kataloniens ein Referendum über die Unabhängigkeit von Spanien abhalten – gegen den Willen Madrids. Und separatistische Bewegungen wie in Großbritannien oder Spanien sind in Europa keine Seltenheit.

Russische Medien lenkten zuletzt den Fokus auf das Thema, als man – zur Rechtfertigung des Krim-Referendums – behauptete, dass in der italienischen Region Venetien dasselbe wie auf der damals ukrainischen Halbinsel geschehe. Tatsächlich sprach sich eine Mehrheit der Venetianer im März in einer nicht bindenden Online-Abstimmung für eine Abspaltung von Italien aus. Anfang April nahm die Polizei in der norditalienischen Region mutmaßlich gewaltbereite Separatisten wegen Terrorverdachts fest.

Dass es bald ein eigenständiges Schottland, ein unabhängiges Venetien oder einen Nationalstaat Katalonien gibt, bezweifelt allerdings die Regionalismus-Expertin Alexandra Kovanetz von der Universität Würzburg: „Zu dem Referendum in Schottland gibt es verschiedene Umfragen mit unterschiedlichen Tendenzen, wie sich die Bevölkerung entscheiden wird. Meine Vermutung ist aber, dass am Ende das Ergebnis das gleiche wie 1979 sein wird.“

Schon damals hatten sich nicht genügend Schotten für eine Unabhängigkeit von Großbritannien entschieden. Und schon damals konnte ein noch heute gewichtiges Argument der Abspaltungsbefürworter die Mehrheit nicht überzeugen: Es geht um das Nordseeöl, das seit den 1970er Jahren vor der schottischen Küste gefördert wird und dessen Erlöse bislang nach London fließen. „Die Schotten sehen sich aber auch als Briten“, erklärt Kovanetz. Ein wohl besseres Argument für viele: Identität schlägt Finanzen.

Für eine erfolgreiche separatistische Entwicklung spricht laut Kovanetz vor allem eine homogene, historische Identität – mit festem Gebiet und eigener Sprache. Etwas, das im für italienische Verhältnisse reichen Venetien allerdings keine große Rolle spielt. „Dort geht es den Separatisten nicht um die eigene Identität, sondern ausschließlich um Geld“, so die Expertin. Die wirtschaftliche Lage im Verhältnis zum Nationalstaat spiele zwar eine Rolle – oft wollen reiche Regionen die klamme Zentralregierung nicht finanzieren –, doch zeige etwa das Beispiel der norditalienischen Lombardei, die wirtschaftlich stärker als Venetien sei, aber keinen Separatismus kenne, dass Geld nicht alles ist.

Dennoch sind es auch in Katalonien, der reichsten Region Spaniens, vor allem die hohen Steuerabgaben an Madrid, die für Ärger sorgen. 2012 gingen 1,5 Millionen Katalanen in Barcelona für einen eigenen Staat auf die Straße. Gegen das für November geplante Referendum klagte die Zentralregierung zwar mit Erfolg vor dem Verfassungsgericht, käme es aber doch zu der Abstimmung, wollen nach einer aktuellen Umfrage 47 Prozent der Katalanen für eine Abspaltung stimmen.

Kovanetz vermutet dahinter aber mehr als katalanischen Steuerfrust: „Die Katalanen haben immer gut mit Madrid koexistiert und man war froh, dass man als historische Region in der Verfassung anerkannt wurde, und nach der Franco-Diktatur wieder Sprache und Kultur frei leben konnte.“ Separatistische Bewegungen habe es nie in diesem Ausmaß gegeben. Doch dann wurde als Reaktion auf die Wahl von Ministerpräsident Mariano Rajoy die „Assemblea Nacional Catalana“ (ANC), eine Initiative für die Unabhängigkeit Kataloniens, gegründet. „Rajoy will Spanien wieder zentralisieren“, so Kovanetz. Er sei gegen den Regionalismus. „Solange Rajoy an der Macht ist, wird es kein Referendum für Katalonien geben“, glaubt die Politikwissenschaftlerin.

Die Existenz einer Bürgerbewegung wie die ANC kann laut Kovanetz Separatismusbestrebungen entfesseln. Ähnliche Wirkung haben Regionalparteien wie die „Scottish National Party“. Der Unabhängigkeitsgedanke flammte in Schottland erst wieder auf, als diese 2007 in dem 1999 wieder eingesetzten schottischen Parlament an die Macht kam. Seit 2011 hat sie die absolute Mehrheit.

Eine Regionalpartei, die mit absoluter Mehrheit regiert? „Nein“, sagt Kovanetz und nimmt den naheliegenden Gedanken auf, „auf Bayern und die CSU lässt sich das nicht übertragen.“ Der Freistaat sei wegen seiner einzelnen Regionen zu heterogen. „Es gibt zwar ein bayerisches Klischee, aber keine homogene bayerische Identität“, findet die Schwäbin. Außerdem sei Bayern nie separatistisch gewesen, auch Franken nicht. „Franken ist bayerisch. Schon seit dem 19. Jahrhundert, als es von Napoléon in das bayerische Staatsgebiet eingegliedert wurde.“

Während Separatismus also kein deutsches Phänomen ist, sind andere Länder stärker betroffen. Beispiel Spanien: Radikaler als die Katalanen kämpften lange die Basken um Unabhängigkeit. Der ETA-Terror ist unvergessen. „Im Moment hat aber die 2011 unter Premier Zapatero geschlossene Waffenruhe Bestand“, so Kovanetz.

In Italien will die rechtspopulistische „Lega Nord“ gar eine Spaltung des Landes – in den armen Süden und den reichen Norden. Zu Letzterem würde auch Südtirol gehören. Der einst zu Österreich gehörende Landstrich wurde Italien nach dem Ersten Weltkrieg als Belohnung für die Unterstützung der Alliierten zugesprochen, ist also Kriegsbeute. Bis heute sprechen in Südtirol mehr Einwohner Deutsch als Italienisch. Doch nachdem die Region weitgehende Autonomie erhalten hatte, war die Unabhängigkeit kein großes Thema mehr. „Die Südtiroler sind heute eher stolz auf ihren gleichgestellten italienischen und österreichischen Bezug“, meint Kovanetz.

Auch Korsika fühlt sich keinem bestimmten Staat zugehörig. Die heute französische Mittelmeerinsel wurde im Laufe der Geschichte unter anderem von Griechen, Römern und Briten beherrscht. Seit Jahrzehnten kämpft die Untergrundorganisation „Nationale Befreiungsfront Korsikas“ für die Unabhängigkeit und schreckt dabei wie die baskische ETA vor Anschlägen nicht zurück. Ziel sind oft Villen von Festlandfranzosen. Erst im Dezember 2013 wurden Anschläge auf Polizeikasernen in Bastia und Ajaccio verübt.

Gemäßigter, aber ebenso kompromisslos fordert die flämische Separatistenpartei N-VA eine Abspaltung Flanderns von Belgien, was einem Zerfall des Landes in Flandern und das finanzschwache Wallonien, als verbliebenes belgisches Staatsgebiet, gleichkäme. „Die Flamen wollen aber Brüssel als Hauptstadt“, sagt Kovanetz. Und das dürfte kaum realisierbar sein: Brüssel ist immerhin nicht nur Hauptstadt des belgischen Nationalstaats, sondern auch Zentrum der Europäischen Union

Überhaupt scheinen viele Separatisten die Rechnung ohne Brüssel gemacht zu haben: Die meisten sind sicher, dass ihre Regionen – die, eingebettet in einem Nationalstaat, heute Teil der EU sind – als unabhängige Staaten automatisch EU-Mitglied würden. Doch in Brüssel sieht man das anders: Die Nationalstaaten sind Mitglieder, nicht die Regionen, heißt es dort. „Es müsste erst geprüft werden, ob die Regionen als Nationalstaaten die Beitrittskriterien erfüllen“, erklärt Kovanetz. Und dann müssten immer noch die Mitgliedsländer für einen Beitritt votieren – einstimmig. Ob Nationalstaaten ihren abtrünnigen Regionen ihre Stimme geben würden?

Dennoch: Die Schotten stimmen noch dieses Jahr über eine Unabhängigkeit ab. Spricht sich seine Mehrheit dafür aus, wäre ihr Land 18 Monate später ein eigenständiger Staat.

Alexandra Kovanetz

Die Politikwissenschaftlerin Alexandra Kovanetz studierte in Würzburg und Barcelona Politische Wissenschaft, Iberoromanistik, Geschichte und Öffentliches Recht. 2011 begann die heute 29-Jährige mit der Arbeit an ihrer interdisziplinären Dissertation mit dem Thema „Regionalismus in Europa“, die sie 2014 fertigstellte. Zwischen 2012 und 2013 verbrachte sie mehrere Monate zu Forschungszwecken in Katalonien, Österreich und Schottland. FOTO: Privat/Text: ben

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