Recep Tayyip Erdogan, der Mann im Fadenkreuz: Ihn wollten sie ausschalten, politisch und offenbar auch physisch, jene Offiziere, dieam Freitagabend in der Türkei einen Staatsstreich anzettelten. Kampfhubschrauber der Putschisten feuerten auf jenes Hotel im Urlaubsort Marmaris, wo Erdogan das Wochenende verbringen wollte. Aber als die Granaten einschlugen, war der Staatschef bereits auf dem Weg nach Istanbul. Statt ihn zu eliminieren, haben die Putschisten in spe Erdogan noch mächtiger gemacht. Abzulesen ist das an den Massenkundgebungen, zu denen sich hunderttausende Menschen am Wochenende in türkischen Städten versammelten.
Als Erdogan am Samstagmorgen am Istanbuler Atatürk-Flughafen auftrat, skandierten fanatisierte Anhänger: „Sag es, und wir töten, sag es, und wir sterben.“ Vielerorts harrten die Menschen die ganze Nacht zum Sonntag bei „Wachen für die Demokratie“ aus oder veranstalteten „Siegesfeiern“.
Abzulesen ist Erdogans neue Stärke auch an den Solidaritätsadressen der Oppositionsparteien und regierungskritischer Medien. Der Präsident verliert jetzt keine Zeit, er nutzt die Gunst der Stunde. Der Putschversuch sei „ein Segen Gottes“, erklärte Erdogan, weil sich nun ein Anlass biete, „unsere Streitkräfte, die vollkommen rein sein müssen, zu säubern.“ Und nicht nur sie. Nachdem am Samstag bereits fast 3000 mutmaßliche Verschwörer aus den Reihen der Armee festgenommen wurden, ließ Erdogan innerhalb von weniger als 24 Stunden nach dem Putschversuch auch über 2700 Richter ihrer Ämter enthoben. Das entspricht fast einem Fünftel der gesamten Richterschaft.
Unter den Geschassten sind auch zwei Verfassungsrichter – das türkische Verfassungsgericht hatte in den vergangenen Jahren mit einer Reihe von Entscheidungen den Zorn Erdogans herausgefordert. Als die Verfassungsrichter im Februar die Freilassung zweier regierungskritischer Journalisten anordneten, verstieg sich Erdogan sogar zu der Drohung, er werde das Verfassungsgericht abschaffen, wenn es weiter solche Urteile fälle.
Mit seiner konfrontationsgeladenen Politik riss Erdogan nicht nur tiefe Gräben in der türkischen Gesellschaft auf. Er hatte sein Land in den vergangenen Jahren auch international zunehmend isoliert: Bruch mit Israel, Streit mit Russland, Reibungen mit der EU wegen krasser Demokratie-Defizite und Missachtung der Meinungsfreiheit, Spannungen mit den USA, vor allem wegen der duldsamen Haltung gegenüber dem IS, der die Türkei jahrelang als wichtigstes Transitland für angeworbene Kämpfer und Rückzugsraum nutzen konnte – die Türkei stand nicht gut da. Jetzt aber regnet es Solidaritätsbekundungen für den umstrittenen Boss am Bosporus. Erdogan bekommt Rückendeckung aus aller Welt, sogar US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump wünschte ihm am Wochenende: „Hoffentlich geht alles gut!“
Besser hätte es für Erdogan in der Tat kaum laufen können. Der 62-Jährige wurde schon oft im Laufe seiner Karriere politisch totgesagt. An diesem Wochenende erwies er sich einmal mehr als Überlebenskünstler, der nicht unterzukriegen ist. Er hat das Militär erneut in die Schranken verwiesen.
Bis in die 2000er Jahre hinein waren die Generäle die wahren Herren des Landes. Der von ihnen dominierte Nationale Sicherheitsrat stellte die eigentliche Regierung dar, das Kabinett war an seine Weisungen gebunden. Die Offiziere verstanden sich als Testamentsvollstrecker des Staatsgründers Atatürk, dessen politisches Erbe sie bewahren wollen, vor allem die weltliche Staatsordnung und die Westorientierung des Landes. Vier demokratisch gewählte Ministerpräsidenten haben die Militärs seit 1960 gestürzt, zuletzt 1997 den Islamisten Necmettin Erbakan, Erdogans politischen Mentor. Erdogan selbst stand ganz oben auf der Liste jener Politiker, deren Karriere die Generäle zu durchkreuzen versuchten, seit er 1994 als Kandidat von Erbakans fundamentalistischer Wohlfahrtspartei (RP) zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt wurde.
Vier Jahre später verlor er das Amt, wurde auf Betreiben der Militärs wegen islamistischer Hetze vor Gericht gestellt, weil er bei einer Konferenz in der ostanatolischen Stadt Siirt aus einem religiösen Gedicht zitiert hatte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.
“ Dafür musste Erdogan vier Monate ins Gefängnis und bekam ein lebenslanges politisches Berufsverbot aufgebrummt – das seine islamisch konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) nach ihrem Wahlsieg im November 2002 aufhob.
Schritt für Schritt schränkte Erdogan in den folgenden Jahren die Rolle der Militärs ein, er zog den Generälen die Zähne. Der Nationale Sicherheitsrat wurde zu einem Gremium degradiert, das nur noch unverbindliche Empfehlungen abgeben durfte. 2008 rüsteten die Militärs zum letzten Gefecht gegen Erdogan: Vor dem Verfassungsgericht setzten sie ein Verbotsverfahren gegen die AKP wegen islamistischer Umtriebe in Gang. Nach viermonatiger Verhandlung lehnte das Gericht mit sechs gegen fünf Stimmen das Parteiverbot ab. Damit hatte Erdogan die entscheidende Schlacht gegen die Armee gewonnen.
Seither scheint es, als könne ihm nichts etwas anhaben. Die Massenproteste vom Sommer 2013 überstand er ebenso wie die Korruptionsvorwürfe, die sechs Monate später hochkamen. Ungeachtet der schweren Anschuldigungen wählten ihn die Türken im Sommer 2014 mit 52 Prozent zum Staatsoberhaupt. Jetzt schickt sich Erdogan an, seine beispiellose Machtfülle mit der Einführung eines Präsidialsystems noch weiter auszubauen.
Nach der Niederschlagung des Putsches müssen Erdogans Gegner zittern. Allen voran der Prediger Fatullah Gülen, den Erdogan beschuldigt, aus seinem Exil in den USA den Staatsstreich geplant zu haben. Gülen bestreitet das. Er dreht den Spieß um: In einem Interview mit der „New York Times“ äußerte er den Verdacht, Erdogan selbst habe den Putschversuch inszeniert – um mit noch härterer Hand regieren zu können.