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BERLIN
Ehe für alle: Wie ein Plauderstündchen ein politisches Beben auslöst
Gleichgeschlechtliche Trauung       -  Eine gleichgeschlechtliche Trauung in Berlin: Was im August 2016 in der evangelischen Marienkirche in Berlin stattfand, ist für die katholische Kirche kein Thema und auch in Teilen der Politik umstritten.
Foto: Wolfram Kastl, dpa | Eine gleichgeschlechtliche Trauung in Berlin: Was im August 2016 in der evangelischen Marienkirche in Berlin stattfand, ist für die katholische Kirche kein Thema und auch in Teilen der Politik umstritten.
Martin Ferber
Martin Ferber
 |  aktualisiert: 05.07.2017 03:49 Uhr

Es geht um Politik, aber auch um Persönliches. Ein harmloses Plauderstündchen ohne größere Relevanz. Als Kind, so verrät Angela Merkel am Montagabend bei einer Veranstaltung der Frauenzeitschrift „Brigitte“ im Berliner Maxim-Gorki-Theater, habe ihr das Springen vom Drei-Meter-Brett viel Mut abverlangt.

Als Kanzlerin habe sie all ihren Mut zusammennehmen müssen, um den damaligen US-Präsidenten George W. Bush auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm auf das Thema Klimaschutz anzusprechen.

Die Zuhörer amüsieren sich prächtig, die Kanzlerin, sichtlich entspannt, plaudert über Gott und die Welt – und löst nebenbei und wahrscheinlich ungewollt ein politisches Beben in Berlin aus. Von einem Zuhörer gefragt, was sie denn von der „Ehe für alle“, also auch für gleichgeschlechtliche Paare, halte, rückt sie eher beiläufig von einer bislang konsequent verteidigten Position von CDU und CSU ab.

Es sollte eine Diskussion sein

„Ich möchte die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke“, sagt sie in einem typischen Merkel-Satz, der harmlos klingt, aber brisanter kaum sein könnte. Denn indem sie das Thema zu einer „Gewissensentscheidung“ erklärt, stellt sie praktisch jedem Abgeordneten der Unionsfraktion frei, wie er entscheidet – ohne auf die Koalitionsdisziplin und den Fraktionszwang Rücksicht zu nehmen.

Und eine Begründung hat sie auch parat. Bislang habe sie stets das Wohl der Kinder im Blick gehabt, sagt sie. Doch nun habe sie erlebt, dass in ihrem Wahlkreis im Nordosten der Republik ein lesbisches Paar acht Pflegekinder betreue. Wenn der Staat einem homosexuellen Paar Kinder zur Pflege gebe, „kann ich nicht mehr ganz so einfach mit der Frage des Kindswohls argumentieren“. Das seien Dinge, „die mich sehr beschäftigen“.

Ganz überraschend kommt der plötzliche Kurswechsel der Kanzlerin allerdings nicht, nachdem in den vergangenen Tagen nicht nur die Grünen, sondern auch die FDP wie die SPD die Ehe für alle zur Bedingung für eine Koalition gemacht haben. Schon am Sonntagabend diskutiert die CDU-Spitze über das Thema, Merkel bespricht sich zudem mit CSU-Chef Horst Seehofer. Gleichwohl verbreitet sich noch in der Nacht der neue Kurs der CDU-Chefin wie ein Lauffeuer – und platzt mitten in die letzte Sitzungswoche des Bundestags vor dem Ende der Legislaturperiode. Schon beim gemeinsamen Frühstück der Fraktionschefs der Großen Koalition drängt Thomas Oppermann von der SPD seine Kollegen Volker Kauder (CDU) und Gerda Hasselfeldt (CSU), das Thema auf die Tagesordnung des Bundestags zu setzen und eine Entscheidung noch diese Woche herbeizuführen. Es gebe einen Beschluss des Bundesrats, der eine entsprechende Initiative des Landes Rheinland-Pfalz aufgegriffen habe und der bereits in erster Lesung behandelt wurde; diesen könne man sofort beraten und verabschieden. Doch Kauder und Hasselfeldt lehnen ab. Darüber solle erst der neue Bundestag entscheiden.

SPD drängt auf eine Entscheidung

Doch die SPD lässt nicht locker. Bei einem gemeinsamen Auftritt von Parteichef Martin Schulz, Fraktionschef Thomas Oppermann, Vizekanzler Sigmar Gabriel und den anderen Ministerinnen und Ministern der SPD vor der Bundespressekonferenz macht die gesamte SPD-Spitze deutlich, dass sie noch in dieser Woche eine Entscheidung will – notfalls gegen den Willen der Union. „Wir wollen der Gewissensentscheidung nicht im Wege stehen“, sagt Schulz treuherzig, „Gewissensentscheidungen muss man nicht auf die lange Bank schieben.“ Der frühere Parteichef Sigmar Gabriel legt einen Brief vor, der belegt, dass er die Kanzlerin bereits vor zwei Jahren aufgefordert habe, die Ehe für alle zuzulassen, im Koalitionsausschuss aber immer wieder am Widerstand der CSU gescheitert sei. „Madame, geben Sie Gewissensfreiheit – und zwar jetzt!“, appelliert er an Merkel in Abwandlung eines Zitats aus Schillers „Don Carlos“. Und Fraktionschef Oppermann macht deutlich, dass dies alles andere als eine Aufkündigung der Koalition mit der Union sei. Die SPD habe sich bis zuletzt vertragstreu verhalten, bei einer Gewissensentscheidung gebe es keine Fraktionsdisziplin.

Die Union schäumt. Volker Kauder wirft der SPD vor der Sitzung der Unionsfraktion „Wortbruch“ vor. Wenn die SPD über das Thema noch in dieser Woche im Bundestag abstimmen wolle, müsse sie gemeinsame Sache mit der Opposition von Linken und Grünen machen. Gleichwohl will auch Kauder von einem Ende der Koalition nichts wissen.

So kommt es am Ende, wie es kommen muss. Angela Merkel hebt in der Sitzung der Unionsfraktion den Fraktionszwang auf. Auch die CSU-Spitze in München gibt nach einer Telefonkonferenz den Weg für die Gewissensentscheidung frei. Zwar beinhalte die Grundposition der CSU nicht die Ehe für alle. „Gleichwohl haben wir Respekt und Verständnis, wenn Bundestagsabgeordnete der CSU bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag ihrem Gewissen folgend eine abweichende Entscheidung treffen.“

Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften

In Deutschland leben immer mehr schwule und lesbische Paare zusammen. Von 2006 bis 2015 stieg die Zahl laut Statistischem Bundesamt um 32 000 auf 94 000. Unter diesen 94 000 Lebensgemeinschaften waren rund 43 000 sogenannte Homo-Ehen, also eingetragene Partnerschaften (31 000 mehr als 2006). 23 000 Homo-Ehen wurden zwischen schwulen Männer geschlossen. Homosexuelle Paare können ihre Lebenspartnerschaft seit 2001 offiziell eintragen lassen. Inzwischen wurden diese Paare in vielen Fragen verheirateten heterosexuellen Paaren gleichgestellt, so etwa bei der Unterhaltspflicht, im Erbrecht und beim Ehegattensplitting. Sie haben bisher aber kein volles Adoptionsrecht. dpa
 
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