Fünf Minuten vor zwölf ist alles vorbei. Frank Rosenow, der Vorsitzende Richter, hat lange überlegt, ob er noch etwas über die Umstände sagen soll, unter denen er dieses Verfahren geführt hat, über das mediale Dauerfeuer, das seinen bislang größten Fall begleitet hat, oder über Deutschlands umstrittensten Staatsanwalt, Clemens Eimterbäumer, mit dem er hier im Saal mehrfach aneinandergeraten ist. Am Ende entscheidet er sich dagegen, auch wenn es ihm schwerfällt. Der Tag des Urteils, sagt er, sei der Tag der Angeklagten, und wenn das Gericht einen Angeklagten für unschuldig halte, dann solle man in so ein Urteil auch nichts hineininterpretieren. Unschuldig sei unschuldig. Uneingeschränkt. „Das ist wie in einer Schwangerschaft“, schmunzelt Rosenow. „Ein bisschen schwanger geht nicht.“
Michael Nagel, einer der Anwälte von Christian Wulff, wird später von einer „Ehrenerklärung“ für den Bundespräsidenten a. D. sprechen, die Rosenows Kammer mit ihrem Urteil abgegeben habe. Sein Mandant selbst ist noch etwas zurückhaltender. Erleichtert sei er, sagt Wulff nur kurz, nach zwei für ihn so schwierigen Jahren, und dass er nie daran gezweifelt habe, wie dieser Prozess ausgehen werde. Nun aber hat er einen dringenden Termin – er will mit seiner Tochter Annalena den kleinen Linus, seinen Sohn, vom Kindergarten abholen. Eine gute Stunde lang hat Richter Rosenow zuvor das Urteil in der Strafsache 40 Kls/13 begründet, dem ersten Prozess gegen ein ehemaliges Staatsoberhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik.
Nüchtern referiert er den Vorwurf der Anklage, Wulff habe sich vom Filmunternehmer David Groenewold im Herbst 2008 zum Oktoberfest nach München einladen lassen und sich im Gegenzug für ein Filmprojekt seines Freundes bei Siemens-Chef Peter Löscher verwandt. Clemens Eimterbäumer, der forsche Oberstaatsanwalt, hält das für einen Fall von Korruption – für Richter Rosenow aber spricht nicht nur eine Reihe von Indizien dagegen, sondern auch die schlichte Lebenserfahrung: Natürlich könnte es so gewesen sein, wie die Anklage es vermute, dann aber hätte Wulff, der politische Profi, dabei „Kopf und Kragen“ riskiert.
Ob es vorstellbar sei, fragt Rosenow, den Staatsanwalt fest im Blick, dass sich ein Ministerpräsident für die vergleichsweise bescheidene Summe von etwas mehr als 700 Euro kaufen lasse, noch dazu auf eine derart dilettantische Weise, wie ihm unterstellt werde. Wäre es nicht einfacher gewesen, 1000 Euro in bar über den Tisch zu schieben als Hotelrechnungen aufzubewahren, Bewirtungsbelege und all die Mails, mit denen die Sekretärinnen der beiden Angeklagten das Wochenende in München organisiert hatten?
Bei näherer Betrachtung, argumentiert Rosenow, verlören auch einige durchaus schlüssige Argumente der Anklage „deutlich an Gewicht“. Um jemanden zu verurteilen, genüge es nicht, wenn etwas nur wahrscheinlich erscheine. Dass Groenewold dennoch nicht ganz ungerupft davonkommt, hat andere Gründe: Weil er eine falsche eidesstattliche Erklärung abgegeben hat, verwarnt ihn das Gericht, billigt ihm aber mildernde Umstände wie den enormen medialen Druck und die viele Zeit zu, die seit dem Wiesn-Wochenende vergangen ist. Erst im Wiederholungsfall drohen ihm 3000 Euro Geldbuße.
Hinten im Publikum verfolgt Wulffs Tochter Annalena aufmerksam den Schlussakt dieses politischen und zugleich auch sehr persönlichen Dramas. Unbemerkt von der Meute aus Kameraleuten und Fotografen hat die 20-Jährige sich ins Gerichtsgebäude gemogelt und erlebt nun mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen mit, wie der Ruf ihres Vaters zumindest juristisch wieder hergestellt wird. Kein Detail bleibt unerwähnt in diesem Urteil, nicht das Glas Champagner, das Wulffs Ehefrau Bettina an besagtem Abend auf dem Oktoberfest trank, auch nicht das Glas Bier, mit dem ihr Mann in die Runde prostete. Nur was Wulff gegessen hat, resümiert Rosenow trocken, „konnte nicht geklärt werden“. Was so groß begonnen hat, mit dem Rücktritt eines Bundespräsidenten – es endet seltsam klein. Sogar eine Entschädigung „für die erlittenen Durchsuchungsmaßnahmen“ spricht das Gericht Wulff und Groenewold noch zu.
Das Epizentrum dieses Bebens liegt in einem verschlafenen Ort, eine halbe Autostunde von Hannover entfernt. Großburgwedel. Für das verklinkerte Haus, das Wulff dort mit seiner Familie bezog, hatte die Unternehmergattin Edith Geerkens dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten 500 000 Euro geliehen. Politisch brisant wurde diese unkonventionelle Finanzierung allerdings erst, als Wulff im Februar 2010 im Landtag jede Geschäftsbeziehung zu Egon Geerkens verneinte, einem wohlhabenden Unternehmer und väterlichen Freund. Den Kredit, den dessen Frau ihm gewährt hatte, erwähnte Wulff nicht. Es war sein erster Fehler und der womöglich folgenreichste.
Danach dauerte es wieder über ein Jahr, ehe die „Bild“ über das Darlehen berichtete und der populäre Bundespräsident sich in einen Mann zu verwandeln begann, der Politisches und Privates nicht sauber zu trennen vermag. Der offenbar nicht zur Bank geht, wenn er Geld braucht, der auf Kosten befreundeter Unternehmer Urlaub macht und für einen Moment glaubt, ein empörter Anruf bei einem Chefredakteur reiche aus, um das Erscheinen eines unliebsamen Artikels zu verhindern. Zwei Monate später trat Wulff zurück, weil die Staatsanwaltschaft Hannover gegen ihn zu ermitteln begonnen hatte. Ein Bundespräsident unter Korruptionsverdacht? Undenkbar, eigentlich. Jetzt aber, da alles vorbei ist, sofern die Staatsanwaltschaft nicht noch Revision einlegt, macht auch Wulff seinen Frieden mit der Situation: „Nun kann ich mich wieder der Zukunft zuwenden.“
Der Weg zurück in eine Art neue Normalität wird dennoch schwierig. Christian Wulff hat nicht nur ein Amt verloren, auch seine zweite Ehe ist zerbrochen, seine politische Karriere vermutlich für immer zu Ende. Ein junger, weltoffener Präsident wollte er sein, als er im Juni 2010 zum Nachfolger von Horst Köhler gewählt wurde, das Gesicht eines modernen, unverkrampften Deutschlands, zu dem auch der Islam gehört, wie er fand. Damals brachte ihm das vor allem in der türkischen Gemeinde viele Sympathien ein. Heute könnte eben jener Satz der Schlüssel sein, der ihm den Weg zurück in seinen alten Beruf öffnet. Für eine große Wirtschaftskanzlei soll der gelernte Anwalt Wulff in Zukunft offenbar Mandanten im arabischen und türkischen Raum gewinnen.
Als er aus dem Gericht eilt, ruft eine Frau ihm im Vorbeigehen „Herzlichen Glückwunsch“ zu. Wulff registriert es kaum. Ein paar Meter weiter draußen beginnt gerade sein neues Leben. Annalena ist schon mal vorgelaufen.
Die Affäre Wulff: Vom Privatkredit bis zum Freispruch
25. Oktober 2008: Christian Wulff, damals niedersächsischer Ministerpräsident, erhält von der Gattin eines Unternehmers einen Privatkredit über 500 000 Euro für den Kauf eines Hauses. 18. Februar 2010: Wulff antwortet auf eine Anfrage im niedersächsischen Landtag, er pflege keine geschäftlichen Beziehungen zu dem Unternehmer. Den Kredit verschweigt er. 13. Dezember 2011: Die „Bild“-Zeitung berichtet erstmals über Wulffs Hauskauf-Finanzierung. Zuvor hatte Wulff, inzwischen Bundespräsident, auf der Mailbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann mit Konsequenzen gedroht, falls die Geschichte erscheint. 15. Dezember 2011: Wulff bedauert in einer schriftlichen Mitteilung, den Hauskredit im Landtag nicht erwähnt zu haben. 22. Dezember 2011: Wulff entschuldigt sich öffentlich für die Irritationen und entlässt seinen Sprecher Olaf Glaeseker. 16. Februar 2012: Die Staatsanwaltschaft Hannover beantragt die Aufhebung der Immunität Wulffs, um Ermittlungen führen zu können. 17. Februar 2012: Wulff erklärt seinen Rücktritt. Die Staatsanwaltschaft beginnt wegen möglicher Vorteilsannahme zu ermitteln. Es geht um zwei Urlaube auf Sylt und einen Oktoberfest-Besuch mit Hotelübernachtung 2008, die der Filmproduzent David Groenewold zunächst für Wulff bezahlt haben soll. 2. März 2012: Kriminalbeamte und ein Staatsanwalt durchsuchen Wulffs Wohnhaus. 22. Juli 2012: Neue Vorwürfe werden bekannt. Wulff soll sich als Ministerpräsident dafür eingesetzt haben, der Versicherungswirtschaft Vorteile zu verschaffen. 2008 verbrachten die Wulffs ihre Flitterwochen im Haus eines Versicherungsmanagers in Italien. 7. Januar 2013: Die Wulffs geben ihre Trennung bekannt. 13. März 2013: Die Staatsanwaltschaft bietet Wulff an, das Verfahren gegen 20 000 Euro Geldauflage einzustellen. Sie ermittelt inzwischen nicht mehr wegen Vorteilsannahme, sondern wegen Bestechlichkeit. Groenewold wird eine Einstellung gegen Zahlung von 30 000 Euro angeboten. 9. April 2013: Wulffs Anwälte lehnen das Angebot ab. 12. April 2013: Die Staatsanwaltschaft klagt Wulff wegen Bestechlichkeit und Groenewold wegen Bestechung an. Das Verfahren wegen der Sylt-Urlaube wird mangels Tatverdachts eingestellt. 14. November 2013: Der Prozess gegen Wulff beginnt, doch mit dem reduzierten Vorwurf der Vorteilsnahme und nicht wegen Bestechlichkeit. 27. Februar 2014: Das Landgericht Hannover spricht Christian Wulff frei. Text: dpa