Die Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien bilden wohl die widersprüchlichste Region Europas. Während Kroatien das jüngste Mitglied in der Europäischen Union und Slowenien sogar schon der Euro-Zone beigetreten ist, bekommen andere Länder Korruption, politisches Chaos oder ethnische Konflikte nicht in den Griff. Die Lage auf dem Balkan sollte uns in Deutschland nicht egal sein, warnt der Würzburger SPD-Politiker Walter Kolbow. „Der Südosten Europas“, sagt er mit Blick auf die Rolle der Region in den beiden Weltkriegen, „war schon oft das Zünglein an der Waage.“ Unter anderem zeige die derzeitige Flüchtlingssituation, wie eine Instabilität des Balkan auch uns betreffen könne.
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Kolbow weiß, wovon er spricht. Als in den 1990er Jahren die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien auseinanderbrach und deutsche Soldaten im Rahmen der Friedensmissionen in Bosnien-Herzegowina erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in einen bewaffneten Einsatz geschickt wurden, war der heute 71-Jährige erst Verteidigungspolitischer Sprecher seiner Bundestagsfraktion, später Parlamentarischer Staatssekretär unter Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Beauftragter der Bundesregierung für die Koordination von deutschen Hilfsmaßnahmen in Mazedonien. Bis heute ist er Präsident der deutsch-makedonischen Gesellschaft.
„Ich habe erfahren, dass der Weg zu Frieden und Stabilität auf dem Balkan nicht einfach ist“, sagt Kolbow und ergänzt: „In Mazedonien liegt der Schlüssel dazu.“ Der lange vergessene Staat ist derzeit fast täglich in den Schlagzeilen. Allerdings nicht wegen seiner Bedeutung für die Region, sondern weil Mazedonien von Tausenden Flüchtlingen als Transitland Richtung EU genutzt wird – dabei hatte die Regierung in Skopje schon vorher genug eigene Probleme.
Im Dezember 2005 sah es so aus, als sei Mazedonien auf einem guten Weg, selbst EU-Mitglied zu werden. Brüssel erhob das Land in den Status eines Beitrittskandidaten. „Mittlerweile ist aus dem Beitrittsland aber ein Problemland geworden“, meint Kolbow ernüchternd. Ursprünglich vom westlichen Ausland als Musterbeispiel für den Übergang von der einst kommunistischen zu einer demokratischen Wirtschaft und Gesellschaft gelobt, entwickelte sich Mazedonien in den vergangenen Jahren unter der mehr und mehr autokratischen Führung von Regierungschef Nikola Gruevskis in eine andere Richtung: Medien wurden unterdrückt, Wahlen manipuliert, die Justiz beeinflusst, politische Gegner illegal flächendeckend abgehört.
Über ein Jahr lang hatte die Opposition das Parlament boykottiert. Mitte Juli konnte die EU erfolgreich unter den politischen Lagern vermitteln: Die Opposition wird nun an der Regierung beteiligt, im April 2016 soll es vorgezogene Neuwahlen geben.
Ob das eine Lösung der Probleme ist, bleibt abzuwarten. Denn der politische Konflikt ist auch ein ethnischer. Die Bevölkerung des Landes setzt sich aus rund 65 Prozent ethnischen Mazedoniern und etwa 25 Prozent Albanern zusammen; rund vier Prozent der mazedonischen Bevölkerung sind Türken, gefolgt von Roma (knapp drei Prozent) und Serben (zwei Prozent). Und diese Aufteilung spiegelt sich auch im Parteienspektrum wider. So zählt zu den ethnisch-mazedonischen Parteien etwa die konservative VMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) von Ministerpräsident Gruevski, die ethnischen Albaner sind vor allem in der mitregierenden DUI (Demokratische Union für Integration) repräsentiert.
Welche Auswirkungen diese Konstellation hat, zeigte sich im Mai, als bei einer großangelegten Polizeiaktion gegen bewaffnete Albaner mindestens 22 Menschen getötet wurden. Die Opposition beschuldigte die Regierung, den Konflikt zwischen der albanischen Minderheit und der slawischen Bevölkerungsmehrheit inmitten der politischen Dauerkrise gezielt angeheizt zu haben. Kolbow sprach schon damals von einer „brennenden Lunte“ in Mazedonien und warnte vor einem Flächenbrand.
Ruhe kehrte nicht ein. Anfang Juli lieferten sich Tausende Albaner in mehreren Städten gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei. Anlass war die lebenslange Haftstrafe für sechs Albaner, die vor zwei Jahren in Skopje fünf slawische Mazedonier ermordet haben sollen. Die Demonstranten sprachen von einem Schauprozess ohne Beweise.
„In Mazedonien herrscht ein ethnisches Modell, das mittelfristig funktioniert oder eben nicht“, meint Walter Kolbow. Aufgrund dieses Modellcharakters strahle von dem Land Sicherheit oder Unsicherheit auf den ganzen Balkan aus.
Trotz allem betrachtet Kolbow aber nicht Mazedonien als das problematischste Land der Region, sondern einen anderen Staat, der vom Westen allzu gerne vergessen wird. „Am labilsten ist Bosnien-Herzegowina“, glaubt Kolbow und begründet das mit den „religiösen Differenzen“ in dem Land. Während seines Bosnien-Besuchs im Juni nannte Papst Franziskus die Hauptstadt Sarajevo das „Jerusalem Europas“. Knapp 50 Prozent der Bevölkerung sind Muslime – größtenteils Bosniaken –, gut 30 Prozent sind Orthodoxe – größtenteils Serben – und etwa 15 Prozent Katholiken – größtenteils Kroaten. Die drei Volksgruppen bekämpften sich schon währen des Bosnienkrieges. Trauriger Höhepunkt war das Massaker von Srebrenica, bei dem bosnisch-serbische Truppen im Juli 1995 rund 8000 muslimische Männer und Jungen ermordeten – ein Völkermord und das schlimmste Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa.
Auch heute kann man nicht von „einem Volk“ in Bosnien-Herzegowina sprechen. Erst im Juli drohten die Serben erneut damit, ihre Landeshälfte von dem anderen, von muslimischen Bosniaken und Kroaten kontrollierten Teil abzuspalten und sich dem Mutterland Serbien anzuschließen. Zudem droht im September der Bankrott, nachdem der Internationale Währungsfonds (IWF) wegen Reformunwilligkeit der zerstrittenen Politiker den Geldhahn zugedreht hatte.
Kolbow sieht in der Situation eine Gefahr, die dem Westen nicht egal sein darf. „Bosnien-Herzegowina ist für den Islamischen Staat attraktiv“, ist er sich sicher. Das Land mit dem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil liegt strategisch gut, wird geografisch zu etwa zwei Dritteln von Kroatien umschlossen – die Grenze zur EU – und liegt auf der Balkan-Route, die auch Flüchtlinge auf ihrem Weg von Syrien nach Europa nutzen. Tatsächlich verdichten sich seit Monaten Hinweise, dass die Terrormiliz IS auf dem Westbalkan ein Netzwerk errichtet. Medien berichteten zuletzt unter Berufung auf Nachrichtendienste, dass Islamisten dort im großen Stil Dschihadisten für die Kämpfe in Syrien und Nordirak rekrutierten.
Laut Experten findet die Radikalisierung in sogenannten Salafisten-Dörfern statt. Die Armut gerade der jungen Menschen spiele den Islamisten dabei in die Hände. Nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern auch im Kosovo.
Das Land, das nur von 23 der 28 EU-Staaten anerkannt wird, gilt als das Armenhaus Europas. Organisierte Kriminalität und Korruption sind an der Tagesordnung, obwohl seit 2008 die EU-Rechtsstaatlichkeitsmission Eulex die kosovarischen Behörden beim Aufbau eines Justiz-, Polizei- und Zollwesens unterstützen und an rechtsstaatliche EU-Standards heranführen soll. Bis heute sind auch 677 Bundeswehrsoldaten im Kosovo im Einsatz, um im Rahmen des KFOR-Einsatzes für ein sicheres Umfeld zu sorgen. In der Balthasar-Neumann-Kaserne in Veitshöchheim sprechen wir mit Oberst Jörn Villmann. Nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern per Video-Live-Schalte. Villmann ist Kommandeur des deutschen KFOR-Kontingents.
„Man redet beim Kosovo immer vom 'vergessenen Einsatz'“, sagt der 53-Jährige. „Das ist eine gewisse Gefahr: Man darf sich hier nicht zu sicher fühlen.“ Die Lage sei zwar oberflächlich ruhig und er habe keine Zweifel, dass das so bleibt. Die Bundeswehr habe zudem ein gutes Image in dem Land. Dennoch könnte die Stimmung schnell umschlagen. „Man darf die Risiken, die es gerade im Nordkosovo gibt, nicht verkennen“, warnt Villmann. Die serbische Minderheit im Norden des Landes strebt seit langem nach Autonomie. Immer wieder kam es zu Unruhen. Überraschend gab es nun eine gute Nachricht im Streit zwischen dem Kosovo und Serbien: Nach schwierigen Verhandlungen haben sich die beiden Länder im Vorfeld der jüngsten Westbalkan-Konferenz in Wien auf Kompromisse zur Beilegung ihrer Konflikte geeinigt. Darunter die Vereinbarung, die Serben im Kosovo besser zu integrieren.
Doch laut Villmann sind es auch die alltäglichen Dinge, die die Kosovaren beschäftigen. Zwar habe es schon viele Fortschritte – etwa bei der Infrastruktur – gegeben. Vor allem die hohe Arbeitslosigkeit belaste aber die Menschen. Und auch er spricht das Thema Terrorismus an und die islamistischen Syrien-Rückkehrer. „Es ist eine Politik der kleinen Schritte und es geht nur langsam voran“, sagt Villmann abschließend. Man werde im Kosovo noch einen langen Atem brauchen. So wie wohl im restlichen Gebiet Ex-Jugoslawiens auch. Selbst die beiden Musterschüler des Balkans sind noch nicht über den Berg: Das Euro-Land Slowenien ist im vergangenen Jahr nur knapp einer Pleite des Bankensektors und dem Unterschlupf unter den Euro-Rettungsschirm entgangen. EU-Mitglied Kroatien wird von Brüssel regelmäßig wegen Korruption und ausbleibender Wirtschaftsreformen gerügt.
Ähnlich sieht es in Serbien aus. In dem Land, in dem Tomislav Nikolic Präsident ist – ein Ex-Nationalist und enger Weggefährte von Slobodan Milosevic, der sich zwar geläutert gibt, aber gleichzeitig das Massaker von Srebrenica nicht für einen Völkermord hält –, grassiert die Korruption. Echte Reformen? Fehlanzeige. Auch das kleine Montenegro kämpft mit Korruption und alten Machtstrukturen: Seit fast einem Vierteljahrhundert wird das Land von der Familie des Regierungschefs Milo Djukanovic und einigen befreundeten Clans kontrolliert. Wiederholt wurden Vorwürfe laut, die Regierung stecke hinter Angriffen auf kritische Journalisten.
Dass Menschen derzeit zu Tausenden den Balkan verlassen, scheint vor diesem Hintergrund kaum überraschend. Die Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl“ sprach jüngst von einer „Verelendung und Verarmung“ der Region. Kolbow sieht hier die EU in der Pflicht, für mehr Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung zu sorgen. Doch auch die Staaten selbst sind gefordert, wenn sie den Anschluss an Europa nicht verlieren wollen.