
Adipositas ist eine Volkskrankheit. Ihre Folgen werden oft unterschätzt, sagen Mediziner, Psychologen, Ernährungs- und Sportwissenschaftler. Die KgAS (Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche) trifft sich deshalb einmal im Jahr, um sich über die neuesten medizinischen Erkenntnisse auszutauschen. Der Verein kümmert sich um die Bedürfnisse adipöser Kinder in Deutschland. Am Freitag und Samstag, 16. und 17. März, treffen sich die Experten in der Don Bosco-Berufsschule in Würzburg. Wir sprachen vorab mit einem der Referenten: Markus Röbl, Oberarzt in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin in Göttingen.
Frage: Wie viele Kinder in Unterfranken haben Übergewicht?
Markus Röbl: In Deutschland sind etwa 15 Prozent aller Drei- bis 17–Jährigen übergewichtig und sechs Prozent adipös. Aktuell gehen die Zahlen bei den Einschulungsuntersuchungen leicht zurück, insbesondere auch in Bayern.
In Unterfranken entspräche das etwa 30 000 zu dicken Kindern und Jugendlichen . . .
Röbl: Nicht alle übergewichtigen Kinder müssen behandelt werden. Doch gerade bei den adipösen Kindern ist zu befürchten, dass sie mit schweren Problemen zu kämpfen haben, wenn sie erwachsen sind. Dies wird teuer für unser Gesundheitssystem.
Viele sehen in Adipositas keine Krankheit, sondern nur den Ausdruck eines ungesunden Lebensstils. Sie auch?
Röbl: Nein. Die gesundheitlichen Folgen werden unterschätzt. Früher dachte man, die Kinder kommen in die Pubertät und das Übergewicht verwächst sich. Heute weiß man, dass das nicht stimmt. 80 Prozent der Zehn- bis 14–Jährigen bleiben auch als Erwachsene adipös.
Welche Folgen hat Adipositas für Kinder?
Röbl: Ein Drittel der Kinder hat arteriellen Bluthochdruck, ein Viertel eine Fettstoffwechselstörung, ein Fünftel eine Hyperurikämie (ein Auslöser von Gicht). Ab der Pubertät haben bis zu einem Drittel der Kinder Glukosetoleranzstörungen, ein Prozent hat bereits Typ-2-Diabetes, bis zu zehn Prozent eine nicht alkoholische Fettlebererkrankung.
Werden krankhaft fettleibige Kinder depressiv?
Röbl: Extrem adipöse Jugendliche schätzen ihre Lebensqualität schlechter ein als krebskranke Kinder! Bis zu 40 Prozent der Kinder zeigen depressive Tendenzen, 15 Prozent eine Somatisierungsstörung, das sind Bauch-, Kopf-, oder Rückenschmerzen, die sich nicht organisch erklären lassen.

Sterben diese Kinder früher?
Röbl: Die Lebenserwartung der Kinder, die mit 14 bereits an Typ-2-Diabetes leiden, wird mit zehn bis 15 Jahren geringer geschätzt als bei Gleichaltrigen. Wenn sich das Gewicht nicht deutlich ändert, kostet das ihre Lebenszeit.
Ist es eine Form von Kindesvernachlässigung, wenn bereits Dreijährige unter Adipositas leiden?
Röbl: Zunächst ist es die falsche Ernährung durch die Eltern, meist aus Unkenntnis und ohne bösen Willen. Die Nahrungsmittelindustrie projiziert die Bedürfnisse von Erwachsenen auf die Kinder. In der Drogerie gibt es schon Kinderschokobrei für Babys ab sechs Monaten. Das braucht kein Kind. Wenn die Eltern offen sind, die Ernährung umzustellen, kann man den Kindern leicht helfen.
Also Eltern-Coaching statt Kindertraining?
Röbl: Die Therapie ist abhängig vom Alter des Kindes und den Ressourcen der Familien. Einen Dreijährigen brauche ich nicht schulen, einen Jugendlichen schon. Umso jünger die Kinder sind, desto wichtiger sind die Eltern in der Therapie. Meist gehen die Eltern einkaufen und schleppen die Süßgetränke und Fast-Food-Produkte nach Hause. Die Eltern leben das Essverhalten vor. Sie sind die wichtigsten Vorbilder für ihre Kinder.
Welche Kinder sind besonders anfällig für Adipositas?
Röbl: Kinder aus sozial schwachen Familien erkranken dreimal häufiger an Adipositas als Kinder aus der Oberschicht. Kinder mit Migrationshintergrund sind fast doppelt so oft betroffen.
Welche Folgen hat das für das betroffene Kind?
Röbl: Adipöse Kinder sind häufiger sozial stigmatisiert, haben weniger Sozialkontakte und sind weniger selbstbewusst. Oft ziehen sie sich noch weiter zurück, was das Ganze verschlimmert.
Kann man Adipositas im Kindesalter rückgängig machen?
Röbl: Ja, cirka 80 Prozent der Vorschulkinder, die wir therapieren, können ihren BMI vor der Einschulung deutlich verbessern. Ihr Vorteil: Sie müssen nicht abnehmen, sondern nur wachsen. Je kleiner das Kind, desto größer seine Chance auf Heilung und desto leichter kann es sein Essverhalten verändern.
Welche ist die beste Prävention?
Röbl: Die beste Prävention sind gut gebildete Eltern und Kinder, die einen gesunden Lebensstil wählen. Hier könnte deutlich mehr Bildungsarbeit in Kindergärten und Schulen erfolgen. Die Politik müsste sich mehr für die Kinder einsetzen. Nur ein Bruchteil der Gesundheitskosten (nicht einmal ein Prozent) entfallen aktuell auf die Prävention. Denn den Erfolg sieht man erst langfristig. Hier brauchen wir dringend ein Umdenken.
Haben andere Länder Rezepte gegen Adipositas?
Röbl: Kinder in Deutschland sind immer noch irreführender Werbung ausgesetzt. In Kanada ist Werbung, die sich an Kinder richtet, verboten, da Kinder leichter zu beeinflussen sind. Darüber hinaus haben wir immer noch kein Ampelsystem für gesunde und ungesunde Lebensmittel. Wer weiß schon, dass in einem kleinen Kinderjoghurt sechs Zuckerwürfel enthalten sind? Mexiko macht gerade gute Erfahrungen mit einer Zuckersteuer. Limonaden und Süßgetränke sind dort teurer. Die Folge: Sie werden weniger gekauft. Leider haben Kinder in Deutschland keine starke Lobby.
Ab wann gilt jemand als adipös (krankhaft fettleibig)?
Für Erwachsene spricht die WHO ab einem BMI (Body-Mass-Index), der größer als 25 ist, von Übergewicht, bei über 30 von Adipositas.
Der BMI korreliert mit dem Körperfettanteil. Er wird berechnet, indem man das Gewicht in Kilogramm durch die Größe in Meter zum Quadrat teilt. Beispiel: Aus einer Körpergröße von 1,62 Meter und einem Gewicht von 50 Kilogramm errechnet sich ein BMI von 19.
Da bei Kindern und Jugendlichen der Körperfettanteil je nach Alter und Geschlecht variiert, gibt es Normwertkurven. Die schwersten zehn Prozent der Kinder bezeichnet man als übergewichtig, die schwersten drei Prozent als adipös und die schwersten 0,5 Prozent als extrem adipös.