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WÜRZBURG
Zu viele Kilo belasten die ganze Familie
On diet       -  _
Foto: esolla (iStockphoto)
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:31 Uhr

Ich will nicht, dass es ihr später mal so ergeht wie mir. Dafür sorge ich!“, sagt die 31-jährige Mutter aus Mainfranken. Sie spricht von ihrer siebenjährigen Tochter. Die Oma, 58 Jahre alt, sitzt neben ihr und nickt. Die beiden Frauen wissen, wovon sie reden. 142 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,62 Meter: So viel wog die Mutter noch vor zwei Jahren. Die Ältere bringt nicht ganz so viele Kilos auf die Waage. Doch es sind immer noch zu viele.

Kilos, die krank machen: Der Blutdruck steigt. Das Herz wird krank. Die Knie schmerzen. All dies hat die 58-Jährige am eigenen Leib erfahren. Die beiden Frauen leiden an Adipositas (Fettleibigkeit). Beide haben zig Diäten ausprobiert. Immer wieder, jahrelang. Schon als Zwölfjährige war die jetzt 31-jährige das erste Mal auf Kur zum Abnehmen. Der lange Leidensweg von Mutter und Tochter endete im Würzburger Adipositaszentrum, wo sie sich nach einem Jahr beide für eine Operation entschieden.

Während bei der 58-Jährigen ein Großteil des Magens entfernt wurde, (Schlauchmagen), hatte die 31-Jährige eine Magen-Bypass-Operation. Dabei wird ein Teil des Magens und des oberen Dünndarms von der Nahrung umgangen, die unverdaut in den Dünndarm gelangt. Die Verdauungssäfte werden erst später beigemengt.

Wir sind miteinander gegangen, von Anfang an“, sagt die 58-Jährige. Ihre Tochter ergänzt: „Wir sind gemeinsam durch dick und dann eventuell auch durch dünn gegangen.“ Trotz der schweren Zeit können beide noch über solche Wortspiele lachen. Denn sie haben einander. Und ihre Familie. „Für mich war die Familie sehr wichtig“, sagt die 31-Jährige. „Mein Mann stand hinter mir. Meine Tochter fand es toll, dass ich immer weniger wurde. Sie freut sich, dass ich jetzt so viel mit ihr draußen bin. Auch wenn sie sich über meine Flügelarme lustig macht.“

Übergewicht heute fast normal

Übergewicht sei heute fast normal, sagt Dr. Florian Seyfried, Leiter des Referenzzentrums für metabolische und Adipositas-Chirurgie in Würzburg. Auch in Franken gelten 50 Prozent der Bevölkerung als übergewichtig, 20 Prozent bereits als adipös. Deutschlandweit sind es 25 Prozent. (siehe Kasten)

An krankhaftem Übergewicht leiden zwei bis drei Prozent der Deutschen. Dabei sind Gendefekte oder krankheitsbedingte Ursachen selten. Eine familiäre Veranlagung hingegen gibt es häufig. Auch Schlafmangel, die Arbeit im Schichtdienst oder bestimmte Medikamente begünstigen Übergewicht. „Meist liegt es an mangelnder Bewegung und falscher Ernährung und das über einen sehr langen Zeitraum“, sagt der Arzt.

Aus Sicht der Evolution ist es sinnvoll, dass Menschen gerne kalorienreich essen. „Vor 10 000 Jahren ist man seinem Mammut hinterhergelaufen und diejenigen, die Energie effizienter verwerten und speichern konnten, waren im Vorteil. Heute gibt es an jeder Ecke hoch kalorische Nahrung. Was früher ein Überlebensvorteil war, wird heute zum Problem“, so Seyfried.

Diäten funktionieren nicht

Oft quälen sich seine Patienten jahrelang. „Ich habe immer wieder abgenommen und war stolz darauf. Dann ging es doch wieder nach oben und es war mehr drauf als vorher“, berichtet die 31-Jährige. Sie wollte mit ihrer siebenjährigen Tochter endlich wieder auf den Spielplatz gehen, aktiver sein, noch ein Baby bekommen und „endlich einen Schlussstrich ziehen“. Von ihrer Mutter bekam sie hautnah mit, welche gesundheitlichen Probleme auch auf sie zukommen könnten.

„Wir behandeln nur die Spitze des Eisbergs. Patienten, die keine andere Möglichkeit mehr haben.“
Dr. Florian Seyfried, Leiter des Zentrums für Adipositas-Chirurgie

Dass Diäten nicht funktionieren, hat einen Grund, erklärt Seyfried: Bei einer Diät reguliert der Körper seinen Grundumsatz herunter. Er kann nicht unterscheiden, ob er fünf oder 50 Kilogramm zu viel hat. Deshalb versucht er, den Hungertod abzuwenden und das Gewicht zu verteidigen. Der Körper kann extrem auf Sparflamme stellen. Irgendwann verbraucht er nur noch ein Drittel seiner Energie. Viele essen immer weniger. Sie müssen sich immer mehr auferlegen und kehren irgendwann aus Frust zu ihrem früheren Essverhalten zurück. Die Folge ist der Jojo-Effekt. Wolle man tatsächlich abnehmen, müsse man sein Essverhalten langfristig verändern und mit Sport kombinieren, so Seyfried. Das ist aber für viele seiner Patienten kaum mehr möglich.

Wenn jemand aufgrund seiner Fettleibigkeit an Diabetes erkrankt und hohe Insulindosen braucht oder so starke Schmerzen hat, dass er sich kaum mehr bewegen kann, sei eine Operation (Magenverkleinerung oder Magen-Bypass) oft die einzig sinnvolle Therapie, so der Mediziner. „Wir behandeln nur die Spitze des Eisbergs derjenigen, die keine andere Möglichkeit mehr haben.

“ Patienten mit einem BMI von 55 könne man nicht sagen: „Gehen Sie laufen!“ Für sie sei es oft eine Riesenleistung, zwei Stockwerke in ihre Wohnung oder zum Arbeitsplatz zurückzulegen, die eigenen vier Wände zu putzen oder sich selbst zu waschen. Patienten würden durch die OP nicht automatisch schlank. Vielmehr gehe es darum, Begleiterkrankungen zu behandeln, die Lebensqualität zu verbessern und eine lebenslange Therapie zu beginnen.

OP verändert Stoffwechsel

Auch mit einem anderen Mythos räumt Seyfried auf: Eine Magenverkleinerung sei keinesfalls eine rein mechanische Essbremse. Denn der Darm ist eine physiologische Schaltzentrale, die neuronale (nervliche)und endokrine (hormonelle) Signale an verschiedene Organe aussendet. Wird dort anatomisch etwas umgestellt (durch die OP), verändern sich auch die Signale und mit ihnen das Sattheitsempfinden und der Stoffwechsel. Fett- und kohlenhydratreiche Speisen werden als weniger belohnend empfunden. „Der Geschmacksinn ändert sich“, bestätigt die 31-jährige Mutter aus Mainfranken. „Manche Dinge kommen einem jetzt viel süßer vor als vorher.“

Nach einer OP muss sich der Magen erst wieder ans Essen gewöhnen. Es gab nur Brei und passierte Kost, erinnern sich die beiden Frauen. Trinken ging nur schlückchenweise. Manche Patienten vertragen auch bestimmte Lebensmittel wie Nudeln, Sauerkraut oder kohlensäurehaltige Getränke nicht mehr. Mutter und Tochter können wieder alles essen, allerdings nur in kleinen Mengen und mit ausreichend Kalzium und Eiweiß. Vitamine müssen sie ihr Leben lang zusätzlich einnehmen. „Früher habe ich während des Essens zu viel getrunken“, sagt die 31-Jährige. So war sie von der Flüssigkeit satt, hatte aber kurz nach dem Essen bereits wieder Hunger. Jetzt trinkt sie nur noch eine halbe Stunde vor oder nach jeder Mahlzeit.

Auch zwei Jahre nach der Operation gehen die Frauen regelmäßig zur Kontrolle ins Adipositaszentrum. Dr. Ann-Cathrin Koschker, die Leiterin der internistischen Stoffwechsel- und Adipositasambulanz, weiß, wie wichtig der Rückhalt der Familie für die Therapie ist.

Eine ihrer ersten Fragen an neue Patienten lautet: „Wer unterstützt Sie in Ihrem Vorhaben, abzunehmen?“ Die Erfahrung der Ärztin: Je besser die familiäre Unterstützung, desto wahrscheinlicher der Erfolg für den Patienten, besser gesagt: die Patientin. Denn: Zwei Drittel aller Betroffenen im Würzburger Zentrum sind Frauen.

Adipositas ist ein Familienproblem

Viele von ihnen sind Anfang 40, mit eigenen Kindern. Frauen hätten oft ein anderes Gesundheitsbewusstsein und einen anderen psychischen Leidensdruck, sagt Seyfried. „Die meisten kommen nicht nur wegen ihres Diabetes, ihres Bluthochdrucks und ihrer schmerzenden Knie, sondern auch, weil sie jahrelang darunter gelitten haben, durch die Adipositas gesellschaftlich stigmatisiert zu sein. Das würden sie ihrem Kind gerne ersparen“, sagt Koschker und ergänzt: „Männer kommen meist schwerer und kränker, wenn jemand sie mit der Nase draufstößt, dass es mit dem Abnehmen alleine nicht klappt.“

Adipositas ist oft innerhalb ganzer Familien ein Problem. Die Essgewohnheiten, die Kinder in ihrer Familie erlernen, spielen eine wichtige Rolle. Auch ein Schwangerschaftsdiabetes oder eine starke Zunahme während der Schwangerschaft, erhöht das Risiko für das Kind, später adipös zu werden. In einigen Fällen sei es schwer, den Großeltern zu vermitteln, dem Enkel nicht ständig ungesunde Lebensmittel anzubieten. Manchmal fallen Sätze, die selbst die Internistin schockieren: „Mein Mann ist total dagegen. Er hat Angst, dass ich nicht mehr so koche, wie er gerne isst.“ oder „Mein Kind wird schon im Kindergarten gemobbt, weil ich übergewichtig bin.“

In familiärer Hinsicht haben die zwei Frauen Glück. Die 31-Jährige hat ihr zweites Kind bekommen. Sie wiegt das Baby auf ihrem Schoß. Den Speiseplan der Familie hat sie umgestellt: In die Büchertasche ihrer Siebenjährigen kommt Obst. Keine Schokolade.

Ab wann gelten Menschen als fettleibig?

1975 waren mehr als doppelt so viele Menschen krankhaft untergewichtig als fettleibig. Dies galt auch für Kinder- und Jugendliche. Von ihnen waren laut WHO weniger als ein Prozent fettleibig. Heute sind es fast sechs Prozent der Mädchen und fast acht Prozent der Jungen. Insgesamt leben heute mehr Übergewichtige als Untergewichtige auf der Erde.

Arme Menschen, die hungern und unterernährt sind, gibt es heute weiter, während in Ländern, in denen der Wohlstand wächst, immer mehr so dick werden, dass es ihrer Gesundheit schadet. Die Folge sind Herzinfarkte, Schlaganfälle, Diabetes, Knie-, Hüft- und Gelenkschäden, Depressionen usw.

Um Übergewicht zu messen, nutzen Wissenschaftler den Body-Mass-Index (BMI): Man teilt das eigene Körpergewicht in Kilogramm durch die eigene Größe in Metern zum Quadrat. Ein Wert zwischen 18,5 und 25 gilt als normal, ein Wert darunter als untergewichtig.

Ab einem BMI von 30 beginnt die Fettleibigkeit (Adipositas), bei der man drei Schweregrade unterscheidet. Ab einem BMI von 40 spricht man von morbider – mit Krankheiten behafteter und/oder krank machender – Adipositas.

Der BMI ist umstritten, denn er sagt nichts über die Körperfettverteilung und die Gesundheit aus. Bauchfett und Eingeweidefett sind gefährlicher als Unterhautfettgewebe. Je höher aber der BMI ist und je länger ein Patient einen zu hohen BMI hat, desto größer ist sein Risiko, Folgeerkrankungen zu bekommen.

In Würzburg werden etwa 120 Patienten pro Jahr operiert (Magenverkleinerung oder Magen-Bypass). Insgesamt sehen die Ärzte aber jährlich um die 1000 Patienten, die sie beraten, auf dem Weg zur Operation begleiten oder nach der OP ein Leben lang nachbetreuen.

Beim „Würzburger Modell“ kümmern sich Teams aus Chirurgen, Internisten, Psychologen und Ernährungsberatern um jeden einzelnen Patienten. AKL

 
 
 
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