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WÜRZBURG
Pflegenotstand: Können Angehörige die Lücke schließen?
Matthias Drossel ist Gesamtschulleiter der Bamberger Akademien für Gesundheits- und Pflegeberufe. In seinem Buch „Versorgung älterer Menschen durch die Stärkung informeller Pflege“ zeigt er am Beispiel der Region Oberfranken auf, woran es pflegenden Angehörigen auf dem Land mangelt.
Foto: Karger/SRH Hochschule für Gesundheit | Matthias Drossel ist Gesamtschulleiter der Bamberger Akademien für Gesundheits- und Pflegeberufe. In seinem Buch „Versorgung älterer Menschen durch die Stärkung informeller Pflege“ zeigt er am Beispiel ...
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:57 Uhr

Über drei Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig, etwa drei Viertel werden zu Hause versorgt. Die Kinder oder der Partner übernehmen das Kümmern, im Fachjargon spricht man dabei von informeller Pflege. Angehörige übernehmen damit eine Aufgabe, die, glaubt man einer neuen Studie, viele massiv überlastet. Das müsse sich dringend ändern, fordert Matthias Drossel, Leiter der Bamberger Akademien für Gesundheits- und Pflegeberufe. Allein die professionelle Pflege könne künftig „der steigenden Zahl an Pflegebedürftigen“ nicht gerecht werden. Woran es pflegenden Angehörigen gerade auf dem Land mangelt, hat Drossel am Beispiel der Region Oberfranken untersucht – und seine Lösung geht weit über den Gesundheitsbereich hinaus.

Der Pflegenotstand sorgt seit Monaten für Schlagzeilen. Ist die informelle Pflege durch Angehörige die Lösung?

Sie kann auf jeden Fall zu einer Lösung beitragen. Man muss natürlich professionelle Pflege attraktiver machen und den Nachwuchs fördern. Aber man wird der Nachfrage nicht gerecht werden können. Solche Babyboom-Jahre, wie wir sie hatten, wird es nicht weiterhin geben und das heißt, es werden gar nicht genug Auszubildende auf dem Markt sein, um der steigenden Zahl an Pflegebedürftigen gerecht zu werden. Deshalb brauchen wir einen anderen Bereich, der einspringt – und das muss die informelle Pflege sein. Sie kann einen ganz großen Beitrag leisten.

Was muss dafür konkret passieren?

Man muss endlich erkennen, was es bei den pflegenden Angehörigen für Bedürfnisse gibt, welche Hilfen sie brauchen. Jeder weiß, dass sie die eigentlichen Experten für die Pflegebedürftigen sind, weil sie sie sehr gut kennen. Aber der Rahmen, der ihnen geboten wird, gibt nicht her, dass sie sich ordentlich um ihre Angehörigen kümmern. Nötig wäre zum Beispiel gute Beratung und Information, etwa über Förderungen des Staates. Daneben geht es um Beratung und Anleitung im fachpraktischen Tun. Es würde häufig schon helfen, wenn einfach mal jemand zu den Pflegenden kommt und ihnen erklärt, worauf sie achten müssen – bei alltäglichen Tätigkeiten, aber auch bei psychischen oder medizinischen Herausforderungen.

Reicht das, wenn die soziale Absicherung – Stichwort Lohnfortzahlung – nicht verbessert wird?

Das ist ein ganz wichtiges Thema. Es ist jetzt so eine Art „Kind-krank“-Regelung auf den Markt gekommen: Wenn ich einen Angehörigen zuhause pflege, kann ich in Absprache mit meinem Arbeitgeber in Ausnahmefällen durch die Pflegeversicherung eine bezahlte Freistellung für maximal zehn Tage bekommen. Aber das ist lange nicht die Lösung. Die Angehörigen brauchen zum Beispiel die Sicherheit, dass sie in ihren Job zurückkehren können – so ähnlich wie bei der Elternzeit. Sie brauchen die Sicherheit, dass sie bei Schwierigkeiten problemlos kurz nach Hause gehen können. Eine Lohnfortzahlung wäre da natürlich das Beste. Derzeit kann man lediglich unbezahlt ein halbes Jahr teilweise oder vollständig von der Arbeit fernbleiben. Länger ist nicht festgelegt. Ebenso nichts vergleichbares zum Elterngeld.

Konzentriert sich die Politik zu sehr auf die professionelle Pflege?

Meiner Meinung nach, ja. Unbestritten ist das wichtig. Kurzzeitig war aber aufgekommen, dass man sich um informell Pflegende kümmern wollte. Das wird jetzt völlig von den Themen Fachkräftegewinnung und professionell Pflegende überlagert.

Sind denn informelle und professionelle Pflege als gleichwertig anzusehen?

Absolut. Ich würde sogar die informelle Pflege als höher bewerten.

Warum? Droht mit einem Ausbau der informellen Pflege nicht auch einen Verlust an Qualität im doppelten Sinne: an Lebensqualität für die eingespannten Angehörigen und an Pflegequalität, da professionelle Kräfte durch Laien ersetzt werden?

Lebensqualität geht definitiv verloren. Und da muss man etwas für die Menschen tun. Was das Thema Pflegequalität angeht: Wir brauchen professionell Pflegende, die beraten und anleiten. Aber auch jetzt gibt es informell Pflegende und es zeigt sich, dass das, was geleistet werden muss, häufig keine komplexen und schwierigen medizinisch-pflegerischen Tätigkeiten sind – sondern es geht um Körperpflege, ums Ankleiden, also um alltägliche Dinge. Und gerade da ist die Expertise von informell Pflegenden – was wissen sie über ihren Angehörigen, was braucht er, was hat er für Vorlieben – wesentlich höher und wichtiger zu bewerten als die der Fachkräfte.

Generell ist in unserer Gesellschaft Selbstverwirklichung oft wichtiger als Einsatz für andere. Ist die Idee informeller Pflege da überhaupt ausbaubar – oder scheitert sie am Zeitgeist?

Ich glaube, diesen Zeitgeist müssen wir ändern. Im Emsland gibt es dazu ein langjähriges Projekt, bei dem eine sogenannte Engagement-Region aufgebaut wurde. Wenn man sich die Studie dazu ansieht, wird deutlich, dass man das Bewusstsein dahin triggern kann, dass Menschen sich wieder füreinander interessieren und sich im Vereinsleben und vor allem füreinander einbringen. Die Folge ist letztlich, dass Nachbarschaftshilfen und ähnliches gar kein Problem sind und das würde natürlich auch der informellen Pflege dienen.

Sie plädieren auch in Ihrer Heimat Oberfranken für den Aufbau einer solchen Engagement-Region. Wie soll das aussehen und was bringt das für die Pflege?

Es geht darum, dass man wirklich konzeptionell vorgeht. Nicht einfach ein bisschen Ehrenamt fördern, sondern tatsächlich alle einbinden, von der Ebene der Bezirke über Kirchen und Gemeinden bis zum einzelnen Bürger. Wenn sich Menschen kennen und engagieren, was gerade auf dem Land leichter möglich ist, dann hilft das der informellen Pflege. Denn zum Beispiel können die Pflegenden plötzlich wieder am Vereinsleben teilnehmen, weil vielleicht ein anderer sagt, ich springe mal zwei Stunden bei dir Zuhause ein und kümmere mich. Ein solches Projekt ist ein Prozess, der sicherlich Jahre braucht. Aber er führt am Ende dazu, dass mehr Menschen in den ländlichen Regionen verbleiben.

Dr. Matthias Drossel (geboren 1984 in Lichtenfels) studierte Medizinpädagogik und Pflegewissenschaften mit dem Schwerpunkt Bildungsmanagement. Er ist Gesamtschulleiter der Bamberger Akademien für Gesundheits- und Pflegeberufe und ab Oktober zudem Professor für Medizinpädagogik an der Hochschule für Gesundheit in Gera. In seinem Buch „Versorgung älterer Menschen durch die Stärkung informeller Pflege“ fordert Drossel von der Politik mehr Unterstützung für pflegende Angehörige.

Pflegezeit       -  Pflegende Angehörige sind die eigentlichen Experten für die Pflegebedürftigen, sagt Matthias Drossel, Leiter der Bamberger Akademien für Gesundheits- und Pflegeberufe. Sie bräuchten dringend mehr Unterstützung.
Foto: Oliver Berg, dpa | Pflegende Angehörige sind die eigentlichen Experten für die Pflegebedürftigen, sagt Matthias Drossel, Leiter der Bamberger Akademien für Gesundheits- und Pflegeberufe. Sie bräuchten dringend mehr Unterstützung.
 
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