Matthias Jung (60) ist Chef der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim. Die Wahlforscher erstellen regelmäßig das Politbarometer und fragen Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung ab.
Matthias Jung: Die „Ehe für alle“ ist für die Union eine ambivalente Angelegenheit, das ist keine Frage. Trotzdem glaube ich, dass das Thema nicht so zentral ist, dass es die gesamte Republik bewegt. Deshalb wird aus dem Vorstoß der Kanzlerin weder im positiven noch im negativen Sinne eine wirkliche Dramatik entstehen.
Jung: Das ist richtig. Angela Merkel hat ein weiteres Konfliktthema beendet.
Da mag sich Martin Schulz beschweren, dass asymmetrische Demobilisierung betrieben wird, aber die Politik hat bei diesem Thema nun die Möglichkeit, zur Tagesordnung überzugehen und es nicht Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung im Wahlkampf werden zu lassen.
Jung: Es wird auf jeden Fall eine Mehrheit im Bundestag geben. Schon allein SPD, Linke und Grüne können das mit ihren Abgeordneten durchsetzen. Aber es gibt auch in der Union einen erheblichen Anteil von Abgeordneten, die der Meinung sind, dass es bei der „Ehe für alle“ um eine individuelle moralische und ethische Frage geht, in die der Staat nicht regelnd eingreifen muss.
Jung: Bemerkenswert ist auf jeden Fall, dass eine einzige Bemerkung der Kanzlerin reicht, um große Bewegung in ein Thema zu bringen. Sie provoziert sogar noch, indem sie sagt, sie sei doch verwundert, dass die SPD mit der „Ehe für alle“ so prominent wirbt, wo sie das doch in der gesamten Legislaturperiode im Kabinett kaum thematisiert habe . . .
Jung: Ich sehe nicht, dass in Deutschland keine politischen Themen behandelt werden. Im Gegenteil: Es ist in letzter Zeit sehr viel Kontroverses beim Thema Flüchtlinge und auch bei der inneren Sicherheit gestritten worden, der Brexit und die Zukunft der Europäischen Union spielen eine große Rolle, Steuerkonzepte sind in Arbeit. Zudem kann es doch eine Kanzlerin auch nicht alleine bestimmen, wie sehr sich das Land mit politischen Themen beschäftigt. Dieses Argument erschließt sich mir nicht.
Jung: Wenn dem so war, würde das dafür sprechen, dass das Verhältnis zwischen CDU und CSU wieder auf eine konstruktive Arbeitsebene zurückgekehrt ist. Der Streit zwischen den Schwesterparteien hat die größte Gefahr für einen möglichen Wahlsieg der CDU/CSU dargestellt. Die Union reagiert genauso wie die bürgerliche Wählerschaft sehr empfindlich auf Streit, sie mag das überhaupt nicht.
Jung: Mit dem Begriff „konservatives Lager“ wäre ich vorsichtig. Wir haben im jüngsten Politbarometer die Einstellung zur rechtlichen Gleichstellung von homosexuellen Paaren mit der Ehe abgefragt. Das Ergebnis: Dreiviertel der Bevölkerung ist dafür. Und auch bei den CDU/CSU-Anhängern ist die deutliche Mehrheit für eine rechtliche Gleichstellung. Angela Merkel bewegt sich mit ihrem Kursschwenk also vielleicht innerhalb der Partei auf schwierigem Gebiet. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass Parteien viel fundamentalistischer geprägt sind und auch ein höheres Durchschnittsalter haben als die Bevölkerung an sich. Die Zustimmung zur „Ehe für alle“ hat auch gar nichts damit zu tun, dass die Menschen plötzlich alle so liberal wären und sich für Schwule und Lesben engagieren. Es ist eher so, dass die Leute – bis weit in bürgerliche Kreise hinein – die Einstellung haben, dass dies eine private Angelegenheit sei, aus der sich der Staat gefälligst mit moralischen Vorschriften herauszuhalten hat.
Diese Haltung, die wir seit einiger Zeit feststellen, hat es selbst in einem angeblich so konservativen Land wie Baden-Württemberg erlaubt, dass die in dieser Frage so engagierten Grünen mit einer Figur wie Winfried Kretschmann mehrheitsfähig geworden sind. Das wäre in Zeiten, in denen Homosexualität für bürgerliche Wähler ein Tabu dargestellt hat, nicht denkbar gewesen.
Jung: Ich denke, das wird von vielen Wählern als Aktionismus wahrgenommen. Es entsteht der Eindruck, dass man sich eben bewusst und mit aller Gewalt in den Umfragen verbessern möchte. Umgekehrt wirft es die Frage auf: Warum denn jetzt erst? Daher ist so etwas eine sehr zweischneidige Angelegenheit. Aktionismus ist jedenfalls nichts, wofür man in der Bevölkerung Zustimmung erhält.