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WÜRZBURG
Kommentar zu Notre-Dame: Was uns jetzt wichtig sein sollte
So viel Geld für den Wiederaufbau einer alten Kirche? Wo es doch so viel Dringlicheres gibt? Eine vorhersehbare, deshalb aber nicht weniger unsinnige Diskussion.
Notre-Dame nach dem Feuer – schon zeichnet sich eine Diskussion darüber ab, ob es nicht Wichtigeres gäbe, was man mit den Spendengeldern für den Wiederaufbau tun könnte.
Foto: Eric Feferberg, afp | Notre-Dame nach dem Feuer – schon zeichnet sich eine Diskussion darüber ab, ob es nicht Wichtigeres gäbe, was man mit den Spendengeldern für den Wiederaufbau tun könnte.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 15.07.2024 09:02 Uhr

Diese Diskussion war vorhersehbar: Wie kommt es, dass binnen weniger Stunden über eine halbe Milliarde Euro für den Wiederaufbau einer "alten Kirche" gespendet wird, während Menschen hungern, ohne Obdach sind, aus ihrer Heimat vertrieben oder umgebracht werden, Krankheiten wüten,  Kriege toben? Missstände also, denen oft mit Geld abgeholfen werden könnte, stünde es denn in ähnlicher Fülle zur Verfügung.

  • Lesen Sie auch: Wiederaufbau von Notre-Dame wird komplexe Herausforderung

"Kein Stein ist mehr wert als ein Menschenleben", schreibt ein Facebook-Kommentator. Und die Zeitung "Die Welt" versteigt sich zu der These, dass der "Bauwahn der Kirche" in und um Paris im 12. und 13. Jahrhundert so viele Ressourcen band, dass das Mittelalter möglicherweise 100 Jahre länger dauerte als nötig. Immer wieder wird "Wichtigeres" benannt, das man mit all dem Geld machen könnte. Es werden Unglücke aufgelistet, die weit weniger Mitgefühl erregten, bei denen aber hunderte Menschen starben oder sonstwie zu Schaden kamen.

Notre-Dame ist natürlich ein historisch bedeutsames Bauwerk, Notre-Dame ist aber viel mehr

Der verheerende Brand der Kathedrale Notre-Dame de Paris und die bereits anlaufenden Planungen für die Rekonstruktion werfen also wieder einmal die Frage auf, was uns warum wieviel wert ist. Das katastrophal beschädigte Baudenkmal, so wird allenthalben gebetsmühlenartig wiederholt, sei ein nationales Symbol Frankreichs. Hier hätten historisch bedeutsame Ereignisse stattgefunden, Trauungen, Beisetzungen oder etwa die (Selbst-)Krönung Napoleons zum Kaiser.

Mindestens dieser letzte Punkt dürfte den allermeisten Franzosen herzlich egal sein, und die Orte für Krönungen oder Beisetzungen sonstiger wichtiger Häupter waren ohnehin die Kathedralen von Reims beziehungsweise Saint-Denis.  Die weltweiten, oft hochemotionalen Reaktionen zeigen vielmehr, dass sehr viele Menschen ein sehr persönliches Gefühl des Verlusts empfinden – ob sie Franzosen sind oder nicht, ob sie Katholiken sind oder nicht, ob sie Europäer sind oder nicht.

Notre-Dame ist natürlich ein historisch und kunsthistorisch bedeutsames Bauwerk, ein Denkmal und ein Symbol. Notre-Dame ist aber viel mehr. Notre-Dame zählt zu den Orten auf der Erde, die untrennbar mit der Menschheitsgeschichte verbunden sind. Die unverzichtbare und unschätzbar wertvolle Zeugnisse dessen sind, wo wir herkommen. Wie die Höhlenmalereien von Lascaux. Wie die Pyramiden der alten Ägypter oder der Maya, die Hagia Sophia, die chinesische Mauer, die Akropolis von Athen, die Kaaba in Mekka, die Tempel in Angkor Wat. Und viele mehr.

Missstände können unterschiedlichste Ursachen haben, oft sind es politische, strukturelle, historische

Es ist deshalb völlig unsinnig, marode Schwimmbäder (zugegeben ein Extrembeispiel, aber ein authentisches) gegen Notre-Dame aufzurechnen. So wie das Aufrechnen von Dringlichkeiten ganz allgemein sehr selten sinnvoll ist. Missstände können unterschiedlichste Ursachen haben, oft sind es politische, strukturelle, historische. Und dass auch sehr viel Geld sehr oft nicht sehr viel ausrichtet, sieht man an den überschaubaren Effekten etwa von Entwicklungshilfe oder mancher Subventionen.

Vielleicht aber kann diese Diskussion, so mühsam und vergeblich sie sich anfühlt, doch eines bewirken: Dass wir uns klar machen, was uns wirklich etwas bedeutet. Dass wir einerseits unser kulturelles Erbe mit neuer Wertschätzung hüten. Schließlich ist allein die Tatsache atemberaubend, dass da ein Bauwerk viele 100 Jahre und viele Aufstände, Revolutionen und Bilderstürmungen überlebt hatte. Und dass wir andererseits die Katastrophe von Notre-Dame zum Anlass nehmen, endlich all die Missstände anzupacken, die wir inzwischen als mehr oder weniger unabänderbar hinnehmen.  Das eine tun, ohne das andere zu lassen, also. Vielleicht profitiert davon ja irgendwann sogar das ein oder andere Schwimmbad.

 
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