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MITTELFRANKEN
Interview: Franke rettet Flüchtlinge auf dem Mittelmeer
Immer mehr Frauen mit Kindern steigen in die heillos überfüllten Schlauchboote der Flüchtlingsschlepper. Sie riskieren alles, um übers Meer nach Europa zu kommen.
Foto: Sea Eye | Immer mehr Frauen mit Kindern steigen in die heillos überfüllten Schlauchboote der Flüchtlingsschlepper. Sie riskieren alles, um übers Meer nach Europa zu kommen.
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 09.04.2018 09:54 Uhr

Immer weniger Migranten kommen in Deutschland an. Die Flüchtlingskrise ist vorbei, könnte man meinen. Einer, der dem widerspricht, ist René Stein.

Der 65-Jährige aus dem mittelfränkischen Röttenbach hat früher als Ingenieur gearbeitet. Statt seinen Ruhestand zu genießen, rettet er Menschen. Jene, die ohne die Hilfe der Ehrenamtlichen im Mittelmeer ertrinken würden. Als Kapitän steuert er 24 Seemeilen (etwa 45 Kilometer) vor der nördlichen Küste Afrikas Schiffe der Regensburger Organisation „Sea Eye“.

2016 und 2017 war er für jeweils vier Wochen im Einsatz. Sein Fazit: Die Chancen für Flüchtlinge, Europa lebend zu erreichen, sind innerhalb eines Jahres drastisch gesunken. Die Arbeit der Rettungskräfte wird immer mehr behindert. Trotzdem oder gerade deshalb plant der Franke jetzt schon seinen nächsten Einsatz.

Frage: Immer noch steigen Flüchtlinge in völlig seeuntaugliche Schlauch- oder Holzboote und riskieren auf dem Seeweg nach Europa ihr Leben. Erst kürzlich ertranken wieder mindestens 16 Menschen. Die meisten Flüchtlinge haben ein Handy – warum spricht sich das in Afrika nicht herum?

René Stein: Über Handy melden sich nur diejenigen, die durchgekommen sind. Viele stehen unter Erfolgszwang, weil sie von ihren Familien losgeschickt wurden. Die meisten sind Monate, manche Jahre unterwegs. Einmal hatten wir einen 17-Jährigen aus Mali, der fünf Jahre auf der Flucht war. Allein deshalb wird der Flüchtlingsstrom nicht einfach abreißen. Dazu kommt: Diejenigen, die sich beim Anblick des Schlauchbootes weigern, einzusteigen, werden von den Schleppern mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen. Einem haben sie gesagt: „Du musst nur noch über den Fluss fahren“. Damit war das Mittelmeer gemeint.

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Warum schafft es die libysche Regierung nicht, gegen die Schlepper vorzugehen?

Stein: In Libyen gibt es keinen funktionierenden Staat. Die Staatsgewalt beherrscht nur einen geringen Teil des Staatsgebietes. Warlords haben in vielen Landesteilen die Macht. Die behördlichen Instanzen sind korrupt: Zahlt die EU mehr, werden Flüchtlinge von der Überfahrt abgehalten. Zahlen die Schlepper mehr, lässt man die Boote durch.

Was passiert mit den Flüchtlingen in Libyen, die von der Überfahrt abgehalten werden?

Stein: Da keine Medien aus Libyen berichten, liegt vieles im Dunkeln. Flüchtlinge berichten, dass libysche Männer in der Hierarchie ganz oben stehen, Frauen darunter und Schwarzafrikaner ganz unten. Sie werden nicht als vollwertige Menschen anerkannt und wie Sklaven behandelt. Die Auffanglager gelten als Orte des Schreckens. Wenn wir auf die libysche Küstenwache treffen, ist das mit großen Bedenken verbunden.

Warum das?

Stein: Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen mit der libyschen Küstenwache, die sehr aggressiv gegenüber Rettungsorganisationen agiert. 2016 haben sie ein Schiff der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ scharf beschossen. Im November vergangenen Jahres berichtete die Organisation „Sea Watch“ von einem Vorfall: Die Küstenwache hat während eines Rettungseinsatzes einfach Gas gegeben und ist losgeprescht, noch während Flüchtlinge außen an dem Schiff hingen. Ein italienischer Militärhubschrauber hat vergebens versucht, sie zu stoppen. Viele Menschen sind gestorben.

Seit Jahresbeginn sind nach offiziellen Angaben 6000 Flüchtlinge auf dem Seeweg nach Italien gekommen, im Vorjahr waren es 15 000 im selben Zeitraum. Sehen Sie, dass weniger kommen?

Stein: Ja. Es kommen weniger Schlauchboote. Und die Boote haben weniger Flüchtlinge an Bord. Haben sich beim ersten Einsatz noch 150 Menschen auf einem Boot gedrängt, waren es ein Jahr später noch 76.

Ist das nicht schon ein Erfolg?

Stein: Ja und nein. Die Küstenwache holt Flüchtlinge mittlerweile in internationalen Gewässern zurück. Wir haben erlebt, dass Flüchtlinge zu uns sagen: „Wenn ihr uns nach Libyen bringt, springen wir vorher über Bord. Lieber ertrinken als zurück nach Libyen!“ Ich bin mir sicher, dass die Küstenwache in den libyschen Menschenhandel involviert ist.

René Stein ist ehrenamtlicher Kapitän der NGO „Sea Eye“. Er und seine Crew retten Flüchtlinge vor der Küste Afrikas vor dem Ertrinken.
Foto: Sea Eye | René Stein ist ehrenamtlicher Kapitän der NGO „Sea Eye“. Er und seine Crew retten Flüchtlinge vor der Küste Afrikas vor dem Ertrinken.

Haben sich die Herkunftsländer der Flüchtlinge geändert?

Stein: Es kommen weniger Syrer und mehr Afrikaner, beispielsweise aus Gambia oder dem Sudan. Neu ist: Es sind immer wieder Libyer dabei.

Kommen immer noch mehr Männer als Frauen?

Stein: Insgesamt ja. Aber es sind mehr Frauen als vor einem Jahr, darunter viele Alleinreisende. Auf einem Boot mit 76 Menschen saßen 30 Frauen und Kinder. Es waren Schwangere, Frauen mit Säuglingen und Kinder aller Altersgruppen.

Sprechen Sie mit den Flüchtlingen an Bord?

Stein: Die meisten sind so traumatisiert, dass sie nicht über das Erlebte sprechen. Sie sind glücklich, in Sicherheit zu sein.

Wissen Sie, was aus Einzelnen, die sie gerettet haben, geworden ist?

Stein: Eine Ehrenamtliche, die bei uns dabei war, hat noch Kontakt zu einem Fünfjährigen. Von ihm wissen wir, dass er in Italien zur Schule geht.

Was hat sich in einem Jahr noch verändert?

Stein: Die italienischen Behörden haben sich noch mehr aus der Seerettung zurückgezogen. Wir müssen tagelang warten, bevor wir die Menschen abgenommen bekommen und laufen dadurch Gefahr, selbst in Seenot zu geraten. Der Ton ist rauer geworden. Flüchtlinge werden herumgeschubst. Da uns fälschlicherweise die Zusammenarbeit mit Schleppern unterstellt wird, sind die Einnahmen über Spenden drastisch gesunken.

Unterstützen Sie mit Ihrer Arbeit nicht die Schlepper?

Stein: Wir handeln nur in Absprache mit dem MRCC (Maritime Rescue Coordination Center) in Rom. Sie koordinieren die Einsätze und weisen uns an, an wen wir die Flüchtlinge wieder abzugeben haben. Sie teilen uns auch die Koordinaten eines Flüchtlingsbootes mit, das in Seenot geraten ist. Wir verhindern, dass die Menschen ertrinken.

 
 
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