Nach UN-Schätzungen sind in diesem Jahr so viele Menschen wie nie zuvor auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen. Mehr als 3000 Menschen sind seit Anfang des Jahres als tot oder vermisst gemeldet worden. Eine Zahl, die von vielen als Notiz wahrgenommen wird. Nicht so von René Stein. Dem 64-Jährigen aus dem mittelfränkischen Röttenbach (Lkr. Erlangen-Höchstadt) schießen jedes Mal, wenn er solche Meldungen liest, Bilder durch den Kopf. Bilder von untauglichen Booten, Bilder von Männern, Frauen und Kindern, die dicht an dicht gedrängt auf einem Schlauchboot kauern. Bilder von Menschen, die er nicht retten konnte. Vier Wochen lang war er mit dem Rettungsschiff „Sea-Watch 2“ als erster nautischer Offizier ehrenamtlich vor der libyschen Küste unterwegs. Bei einem Besuch in Würzburg erzählt er von seinen Erlebnissen, die ihm noch heute Tränen in die Augen treiben.
René Stein: Wenn jemand in Not ist, versucht man ihm zu helfen. Wenn jemand in Lebensgefahr ist, rettet man ihn. Das ist selbstverständlich. Was will man für Erwartungen haben, wenn man Menschenleben retten will. Und das war mein Ziel. Ich wollte den Menschen helfen. Denn wenn Leute mit so einem Boot unterwegs sind, sind sie in akuter Seenot. Diese Boote aus weichem, schlechtem Material sind katastrophal gearbeitet. An den Nähten quillt der Kleber raus. Auf dem Boden liegen Siebdruckplatten. Oft sind sie mit Bolzen verschraubt, die zehn Zentimeter oder mehr herausstehen.
Stein: Ich kannte diese Bilder auch und wusste, was auf mich zukommt. Außerdem wurden wir in einem Assessment-Center auf den Einsatz vorbereitet. Wir wurden darauf vorbereitet, Entscheidungen zu treffen, etwa ob man dem einen Boot oder dem anderen Boot hilft – auch wenn das bedeutet, dass die Menschen in dem Boot, dem man nicht hilft, wahrscheinlich sterben werden.
Stein: Ein Kollege ist mit dem Beiboot rausgefahren, um Menschen aus dem Wasser zu retten. Er versuchte, einen Mann ins Boot zu hieven. Ohne Erfolg. Er ließ ihn los und half einem anderen.
Stein: Die Boote sind meist völlig überfüllt und untermotorisiert. Ein 40-PS-Motor ist oft der einzige Antrieb. Aber allein die rund 150 bis 160 Menschen in so einem Schlauchboot wiegen schon zehn Tonnen. Die Menschen haben keine Chance, ihr Ziel zu erreichen. Wir haben einmal ein Flüchtlingsboot etwa 40 Kilometer vor der Küste Libyens gesichert. Der Tank war nur noch halbvoll, doch die Männer fragten uns, wie weit es noch bis Italien sei. Sie hatten keine Vorstellung von der Distanz. Von dort sind es nämlich noch etwa 400 Kilometer. Die Männer sitzen meist ohne Rettungswesten rittlings auf den Schläuchen am Rand des Bootes. Stundenlang müssen sie so ausharren, einen Fuß im Wasser, den anderen innen. Im Boot selbst sitzen die Menschen, meist Frauen und Kinder, dicht gedrängt. Auf dem Boden des Bootes sammelt sich im Laufe der Stunden eine Mischung aus Meerwasser, Kotze, Urin und Benzin.
In dieser Lache sitzen die Menschen. Das Erbrochene und der Urin ist nicht das Schlimmste. Das stinkt zwar, aber es ist nicht aggressiv. Anders als das Benzin. Viele Menschen haben davon Verbrennungen am Körper.
Stein: Die „Sea-Watch 2“ ist ein relativ kleines Schiff. Wir sind zwar in der Lage, Menschen an Bord zu nehmen, aber wir können sie nicht über längere Strecken transportieren. Das ist auch gar nicht unser Ziel. Es gibt unter den Hilfsschiffen eine Aufgabenteilung, einige Schiffe übernehmen den Transport, andere die Sicherung der Menschen. Denn wenn ein Schiff transportiert, ist es mehrere Tage nicht im Einsatzgebiet. Unsere Aufgabe ist es, die Boote mit den Flüchtlingen zu sichern und an die Menschen Rettungswesten zu verteilen. Schließlich sind über 90 Prozent der Menschen auf den Schlauchbooten Nichtschwimmer. Allerdings bringen wir Kranke, Verletzte, Frauen und Kinder an Bord unseres Schiffes.
Stein: Das waren extrem schwierige Zustände. Wir haben nur eine Toilette für die Flüchtlinge. Sie mussten über Nacht auf Deck bleiben, eingewickelt in alubeschichtete Decken, da ihre eigene Kleidung kaputt war. Ich erinnere mich an eine Situation, die mich persönlich getroffen hat. Es war eine kühle Nacht. Wir hatten 150 Menschen an Bord, die wir gerettet haben. Die Menschen lagen auf Deck, viele völlig erschöpft, nur zugedeckt mit diesen dünnbeschichteten Decken. Als ich selbst unter die warme Dusche gegangen bin, war das ein beklemmendes Gefühl. Ich habe mir immer wieder gesagt, ich muss ja fit bleiben, um weiter helfen zu können.
Stein: Sicher würde mich das Schicksal der Menschen interessieren. Ich weiß, dass viele keinen Anspruch auf Asyl haben und wieder zurückgeschickt werden. Ich weiß auch, dass selbst viele, die es bis nach Deutschland schaffen, schlechte Zukunftsaussichten haben. Sie haben keine Ausbildung, sprechen die Sprache nicht, sie haben keine Perspektive.
Wir auf der „Sea-Watch“ können dafür keine Lösungen bieten, die müssen auf einer anderen Ebene getroffen werden. Wir helfen nur in der akuten Situation. Wir retten nur Menschenleben, mehr nicht.
Stein: Um zu verhindern, dass Menschen sich in ihrer Verzweiflung in eine solche Lebensgefahr begeben, müssen die Ursachen weiter bekämpft werden. Dabei ist es egal, ob es politisch oder religiös Verfolgte sind. Ich habe Menschen gesehen, deren Körper von der Folter gezeichnet war. Aber wir haben auch Menschen an Bord gehabt, die aus sogenannten wirtschaftlichen Gründen geflohen sind. Häufig wird diese Fluchtursache abgetan, doch auch diese Menschen haben oft keine Überlebenschance in ihrer afrikanischen Heimat. Sie verhungern. Ihre wirtschaftliche Not ist oft nicht zu vergleichen mit der der Menschen in Europa. Industrienationen müssen Verantwortung übernehmen. Schließlich sind es diese Nationen, unter ihnen viele europäische Staaten, die die Staaten des afrikanischen Kontinents ausbeuten.
Stein: Man hat den Eindruck, dass der Flüchtlingsstrom geringer geworden ist, aber das stimmt nur zum Teil. Vielmehr haben sich die Wege der Menschen geändert, die Balkanroute ist im Moment keine Option mehr. Die Flüchtlinge kommen über das Mittelmeer und so vor allem nach Italien. Das Problem wurde also einfach nach Italien abgeschoben. Das Einzige, was sich meiner Ansicht nach tut, sind Versuche, Kooperationen mit Ländern abzuschließen, die unmittelbar an die EU angrenzen, wie etwa Tunesien, die Türkei oder Libyen. Diese sollen demnach ihrerseits die Grenzen strenger kontrollieren, um die Leute abzuhalten. Doch das ändert nichts an den Fluchtursachen. Auch die Arbeit von Frontex trägt nicht zur Lösung bei.
Stein: Ich habe während meines Einsatzes viele Kriegsschiffe patrouillieren gesehen. Diese Schiffe haben ein sehr gutes Aufklärungssystem, etwa mit Drohnen und Hubschraubern. Die europäische Militärmission Sophia und Frontex helfen nur, wenn sie müssen und könnten mit ihren Ressourcen viel mehr tun. Doch die Informationen zu den Flüchtlingsbooten werden nicht an die SAR-Schiffe weitergegeben, sondern nur unzulänglich an das Rescue Center in Rom. Auch auf Funkanfragen haben sie nicht reagiert. Ihr Auftrag ist das Zerstören der Boote, nachdem wir die Menschen aufgenommen haben.
Stein: Ja, ich habe mich für das kommende Jahr gemeldet. Sicher, war es sehr anstrengend. Aber ich kann nicht einfach zuschauen, wie Menschen sterben. In den vier Wochen, in denen ich mit der Organisation unterwegs war, war Sea-Watch an der Rettung von 5000 Menschen beteiligt. Aber wir haben auch Menschen verloren. Ich erinnere mich an eine besonders schlimme Situation. Wir hatten ein Boot gesichert und wollten damit beginnen, Rettungswesten zu verteilen, als die sogenannte libysche Küstenwache unser Beiboot abgedrängt hat.
Eines ihrer Besatzungsmitglieder sprang auf das Flüchtlingsboot, schlug mit einem Stock auf die Flüchtlinge ein. Der Mann inspizierte den Motor des Bootes und ging wieder von Bord. Bei dieser Aktion ist das Flüchtlingsboot stark beschädigt worden, so dass es zu sinken begann. Wir haben versucht, die Menschen mit den Beibooten zu retten, haben ihnen Rettungswesten und eine Rettungsinsel zugeworfen, doch wir konnten nicht alle retten. Etwa dreißig Menschen starben.