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WÜRZBURG/KARLSRUHE
Das dritte Geschlecht kommt
toilet doors for women and men and disabled persons       -  Drei Geschlechterbezeichnungen: In einigen Ländern gibt es das schon – besonders augenfällig als Kennzeichnung von Toilettentüren (auch wenn diese Variante frei erfunden ist).
Foto: Photitos 2016/Montage: Jutta Glöckner | Drei Geschlechterbezeichnungen: In einigen Ländern gibt es das schon – besonders augenfällig als Kennzeichnung von Toilettentüren (auch wenn diese Variante frei erfunden ist).
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:54 Uhr

Neben männlich und weiblich muss künftig ein dritter Geschlechtseintrag im Geburtenregister möglich sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch in Karlsruhe entschieden. Genetiker in Würzburg warten nun auf den Gesetzentwurf für ein neues Personenstandsrecht. Laut Gerichtsbeschluss muss die Neuregelung bis Ende 2018 in Kraft sein.

Geklagt hatte Vanja, intersexuell, weder Mann noch Frau, geboren mit einem atypischen Chromosomensatz. Nach Schätzungen gibt es mindestens 80 000 intersexuelle Menschen in Deutschland. Seit 2013 besteht die Möglichkeit, den Eintrag im Geburtenregister offen zu lassen, wenn das Geschlecht eines Neugeborenen nicht eindeutig ist.

Geschlecht entscheidend für die individuelle Identität

Die Variante „fehlende Angabe“ hilft Intersexuellen aus Sicht der Karlsruher Richter aber nicht weiter. Denn dadurch werde nicht abgebildet, dass sie sich nicht als geschlechtslos begreifen, sondern nach eigenem Empfinden ein Geschlecht jenseits von männlich oder weiblich haben. „Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu“, heißt es in dem Beschluss. Intersexuellen einen Extra-Eintrag im Geburtenregister zu verwehren, sei ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, für den das Gericht keinen Grund sah.

In der Wissenschaft unterscheidet man bislang zwischen dem biologischen (optisch eindeutig erkennbaren), dem genetischen und dem psychosozialen Geschlecht. Es bleibe nun abzuwarten, welche Kriterien der Gesetzgeber für die Bestimmung des dritten Geschlechts zugrunde legt, sagt Eva Klopocki. Humangenetiker wie die Professorin an der Universität Würzburg orientierten sich zunächst an der „chromosomalen Konstitution“ eines Menschen.

Eltern wollen wissen, welcher Name passt

Mehrere Male im Jahr bekommen Klopocki und ihre Kollegen am Institut für Humangenetik Anfragen von Ärzten auf Neugeborenstationen. Dann, wenn es schwer fällt, festzulegen, ob der frisch entbundene Säugling ein Junge oder ein Mädchen ist. Das könne der Fall sein, wenn der Penis vergleichsweise klein oder die Klitoris ungewöhnlich groß gewachsen ist. Eltern wollen aber gerne wissen, ob sie ihrem Kind einen Mädchen- oder Buben-Namen geben können. Und die Standesämter wollen wissen, welches Geschlecht sie in die Geburtsurkunde eintragen sollen.

Genetiker bieten eine Untersuchung des Erbguts, die sogenannte Chromosomen-Analyse, an. Zwei der im Normalfall 46 menschlichen Chromosomen bestimmen das Geschlecht. Sind beide X-Chromosome, ist der Mensch weiblich, bei je einem X- und Y-Chromosom ist er männlich. Schwierig wird es, wenn die Konstellation davon abweicht. So komme es vor, dass ein Mensch nur über ein einzelnes X-Chromosom verfügt, manchmal auch über die Kombination XXY. Genetiker wie Klopocki gehen bislang davon aus, dass ein Mensch mit Y-Chromosom das „Kerngeschlecht männlich“ hat, ohne Y-Chromosom das „Kerngeschlecht weiblich“. Ob sich bei dieser Festlegung durch ein neues Gesetz künftig Änderungen ergeben, weiß man noch nicht.

Psychosoziale Empfindungen spielen eine wichtige Rolle

Seltener als Untersuchungen gleich nach der Geburt sind laut der Expertin Chromosomen-Analysen beim Eintritt in die Pubertät, wenn beispielsweise die typischen körperlichen Veränderungen ausbleiben, oder im Erwachsenenalter, wenn sich für einen Menschen das in den Papieren festgelegte Geschlecht falsch anfühlt. Klopocki: „Dann können wir das chromosomale Geschlecht klären.“

Dass bei der Bestimmung, ob jemand weiblich, männlich oder eben einfach anders ist, aber auch andere Aspekte, wie das psychosoziale Empfinden, eine Rolle spielen, sei unstrittig.

Unterdessen freut sich die Kampagne „Dritte Option“ über den Erfolg in Karlsruhe. „Das grenzt an eine kleine Revolution“, so Sprecher Moritz Schmidt. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter spricht von einem „großen Fortschritt in Richtung Freiheit“.

Mit Informationen von dpa

Intersexualität

In ganz Europa ist der Organisation Transgender Europe keine vergleichbare Entscheidung wie die in Karlsruhe bekannt. In Malta ist es – ebenso wie bisher in Deutschland – möglich, kein Geschlecht anzugeben. In den USA haben mehrere Menschen über den Klageweg das Recht zugesprochen bekommen, ihr Geschlecht in „intersexuell“ oder in andere Alternativen zu männlich/weiblich ändern zu dürfen. Intersexualität erregte in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich des Sports Aufmerksamkeit.

In die Schlagzeilen geriet das Thema durch populäre Fälle wie zum Beispiel der des ehemaligen österreichischen Skirennläufers Erika/Erik Schinegger oder der südafrikanischen Leichtathletin Caster Semenya. Gefordert wird immer wieder, nicht notwendige geschlechtsangleichende Operationen an Kindern zu verbieten. Im Jahr gibt es etwa 1500 solcher medizinischer Eingriffe, sagt Petra Follmar-Otto vom Ethikrat. dpa

 
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