Einst, im vergangenen Jahrtausend, galt es als Sündenfall, wenn ein Redaktionsmitglied seine eigene Zeitung nicht richtig gelesen hatte. Diese Ursache wurde gerne unterstellt, wenn ein- und derselbe Beitrag zweimal erschienen war. Meist fiel das in Lokalteilen auf. Dort pflegte man gerne sogenannten Stehsatz, bestehend aus zeitlosen Artikeln. Die konnten in unterschiedlichen lokalen Ausgaben eingesetzt werden. Damit ließ sich jedes Layout schnell abrunden. Aber bei häufigem Hin und Her von Texten und Bildern ging schon mal die Übersicht verloren.
An vergangene Tage erinnere ich mich, als in der Zeitung vom 31. Mai verschämt, unten links, unter der Überschrift „So ist’s richtig“ um Entschuldigung für etwas gebeten wird, was nicht richtig war. Ein Leitartikel ist in der Vorwoche gleich zweimal erschienen, am Dienstag und am Samstag. Wow, ein Leitartikel, habe ich gedacht. Wie kann das passieren?
Der Leitartikel-Reflex
Meinen Leitartikel-Reflex führe ich darauf zurück, dass man einst den daraus entspringenden Weisheiten, häufig aus der Feder von Chefredakteuren, ganz besonders großes Gewicht beimaß. Da wurde die Richtung vorgegeben. Für kluge Gedanken gilt das natürlich weiterhin. Belegt ist aber auch, dass der Meinungsbeitrag auf der zweiten Zeitungsseite von der Leserschaft oftmals weniger gut wahrgenommen wird als gut recherchierte und lesenswerte Beiträge. Das gilt auch für die digitale Welt. In der Region sieht man bei Regionalzeitungen die Basis. Was natürlich keine Nachlässigkeit bei Leitartikeln rechtfertigt, weder beim Schreiben, noch beim Veröffentlichen. Reaktionen zeigen nämlich, dass gerade der Leitartikel bei besonders aufmerksamen Leserinnen und Lesern ankommt. Aber ans Herz gelegt, sei er allen. Wer seine Zeitung richtig gelesen hat, kennt ihn.
Die eigene Zeitung richtig kennen
Auf der Suche nach der Ursache lässt sich im vorliegenden Fall eine Entwicklung nicht übersehen. Viele Beiträge zu überregionalen und nationalen Themen, dazu zählen meist die Leitartikel auf Seite zwei, entstehen nicht mehr in der Redaktion der Main-Post. Sie werden übernommen von der Redaktion der Augsburger Allgemeine (AA). Zu deren Mutterhaus, der Mediengruppe Pressedruck, gehört bekanntlich seit 2011 die Main-Post. In Augsburg ist der doppelt veröffentlichte Leitartikel entstanden. Doch egal, das gilt nicht als Rechtfertigung für den Fehler in der Würzburger Redaktion. Die eigene Zeitung sollte man ausreichend kennen. Siehe meine ersten Sätze.
Ein Blick voraus
Genug von Fehlern. Blicke ich voraus, dann lässt sich nämlich absehen, dass der nationale und internationale Zeitungsteil der Main-Post (in der Branche spricht man vom Mantel) irgendwann wohl insgesamt in Augsburg verantwortet werden wird. Das liegt auch deshalb nahe, weil schon eine Reihe großer deutscher Zeitungsredaktionen vergleichbar kooperiert. Die bekannten gravierenden strukturellen Veränderungen des Marktes erzeugen einen Kostendruck, der dazu veranlasst. So sollen Zeitungsunternehmen und der Journalismus zukunftsfähig stabilisiert werden. Befürchtet wird dadurch von Branchenexperten ein Verlust an publizistischer Vielfalt im Lande, was nie mit einem Qualitätsverlust einhergehen darf. Und regional betrachtet ist die Veränderung im Einzelfall kaum feststellbar. Die Zeitung bleibt komplett. Die regionale Basis muss journalistisch ohnehin bei den Redaktionen vor Ort bleiben.
Zurück zum weiterhin wichtigen Mantel: Augsburg ist für die Betreuung dieses überregionalen Zeitungsteils gut aufgestellt. Der Chefredakteur der AA, Gregor Peter Schmitz, zuvor Korrespondent in Brüssel und Washington und Träger einiger journalistische Auszeichnungen, ist Autor des doppelt erschienen Meinungsbeitrages. Der Titel: „Was nicht diskutiert werden kann/Debatten über Antisemitismus sind Ablenkungsmanöver/Wir Deutsche müssen ihn bekämpfen, ganz gleich wo“. Und Sie werden es bemerkt haben: Auch die Beiträge nach investigativen Recherchen, mit denen die Maskenaffäre aufgedeckt wurde, kamen aus Augsburg.
Gesprächsangebot des Leseranwaltes
Wer mehr wissen will, ist eingeladen: Ich mache für Dienstag, 8. Juni, 18 Uhr, ein digitales Gesprächsangebot. Wer über das Thema dieses Beitrages oder aber auch ein anderes reden möchte, kann mich auf leseranwalt@mainpost.de anschreiben und erhält einen Teilnahme-Link für Microsoft Teams. Gerne erkläre ich zu diesem Anlass einführend einiges über Medien-Ethik, wie sie aus meiner Sicht aktuell gefordert ist.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute
Frühere ähnliche Leseranwalt-Beiträge:
2011: "Wer die Zeitung wirklich gelesen hat, ist gut informiert und kann mitreden"
2017: "Der doppelte Olympiasieger blieb unbemerkt"
2016: "Verschämtes Bekenntnis zu einem acht Jahre alten Nahles-Interview"
2018: "Vorteile von Kooperationen der Tageszeitungen"