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WÜRZBURG
Wenn beim Husten die Knochen brechen
Hypophosphatasie Gerald Brandt kämpft seit seiner Geburt gegen eine seltene Krankheit. Heute hilft er mit seinen Erfahrungen anderen Betroffenen.
Wenn beim Husten die Knochen brechen       -  Gerald Brandt.
Foto: Angie Wolf | Gerald Brandt.
Folker Quack
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:18 Uhr

Hypophosphatasie (HPP) ist eine seltene Krankheit, die zu schweren Behinderungen führen kann und bei Neugeborenen unbehandelt meist sogar tödlich verläuft. Ursache ist ein genetisch bedingter Defekt des Enzyms alkalische Phosphatase (AP), wodurch Knochen und Zähne, aber auch Nervenzellen nicht richtig gebildet werden können. Der Würzburger Gerald Brandt gründete 2006 einen bundesweiten Selbsthilfeverband für HPP und ist selbst Betroffener.

Frage: Wann hatten Sie die ersten Symptome, wann war klar, woran Sie leiden?

Gerald Brandt: Das war schon als Säugling. Ich trage gleich zwei Mutationen in mir, die die Krankheit auslösen können. Sowohl den für die schwere Neugeborenen-Verlaufsform als auch den für die kindliche Verlaufsform. Aber das war damals alles noch nicht erforscht. So bekam meine Familie ein paar Monate nach der Geburt die Diagnose mit dem Hinweis, dass ich wohl mein erstes Lebensjahr aufgrund der Krankheit nicht überleben werde.

Heute sind Sie 47 Jahre alt. Wie haben Sie das geschafft?

Brandt: Ich hatte zunächst einmal viel Glück im Unglück. Als Säugling habe ich extrem viel und laut geschrien. Sicher eine enorme zusätzliche Belastung für alle Beteiligten, aber mir hat es wahrscheinlich das Leben gerettet. Denn dadurch wurden meine Lungen trainiert. So blieb mir eine sehr häufige und schwerwiegende Komplikation erspart. Normalerweise müssen Kinder mit der schweren Verlaufsform frühzeitig beatmet werden, weil sich die Lungen auch aufgrund der zu weichen Rippen nicht richtig entwickeln können.

Wie ging es weiter?

Brandt: Nachdem ich das erste Jahr überlebt hatte, entwickelte ich mich extrem langsam weiter. Ich hatte zu wenig Muskelkraft, konnte erst sehr spät mit fast zwei Jahren laufen, die Milchzähne fielen gleich wieder aus, aber es ging voran.

Wurden Sie behandelt?

Brandt: Es gab damals noch keinerlei Therapie. Ich bekam Einlagen, Krankengymnastik und Vitamin C. Mehr gab es nicht. Ich wuchs auch in dem Bewusstsein auf, niemals einen zweiten betroffenen Patienten kennenzulernen. Man sprach von einer extrem seltenen Erkrankung und schätzte, dass es in Deutschland maximal fünf Fälle gibt.

Brauchten Sie schon früh einen Rollstuhl?

Brandt: Ich kam in den Kindergarten und konnte durchaus laufen. Mit der Zeit merkten die Ärzte aber, dass meine Beinknochen mein Gewicht nicht halten konnten. Ab vier Jahren war ich deshalb immer häufiger in orthopädischen Kliniken, wo mit Operationen und Gipsverbänden die Knochen begradigt und stabilisiert werden sollten. Später stabilisierte man auch mit Platten und Schrauben. Wobei man heute weiß, dass dies gar nicht sinnvoll ist, weil an den Stellen, wo Schrauben sitzen, der Knochen noch leichter bricht.

Keine schöne Kindheit . . .

Brandt: Vielleicht entstand damals schon mein Galgenhumor. Aber ich hatte wiederum Glück, kurz bevor ich in die Pubertät kam, machte die Krankheit eine Pause, was übrigens gar nicht selten ist, wie man heute weiß. So konnte ich mich eine Zeit lang beinahe altersgemäß entwickeln, ich machte Abitur und begann zu studieren. So in der Mitte meiner 20er Jahre aber begann sich die Krankheit zurückzumelden. Zunächst in Form von mangelnder Konzentrationsfähigkeit, Nervosität und Übelkeit. Ich habe das zunächst der Krankheit gar nicht zugerechnet. Heute weiß man, dass das oft die typischen ersten Symptome der Erwachsenenform sind.

Was war die schwierigste Zeit?

Brandt: Zum einen die Zeit mit den vielen Operationen und Brüchen in der Kindheit, und dann die Zeit ab 2003, wo die Zahl meiner Knochenbrüche stetig und bedrohlich anstieg. Zuletzt waren es im Schnitt zwei im Monat, da reichte ein kräftiges Husten, um mir einen Rückenwirbel oder Rippen zu brechen. Erschwerend kam hinzu, dass die Mineralien, die aus den Knochen freigesetzt wurden, die Nieren schädigten, so dass ich kurz vor einem totalen Nierenversagen stand. Doch schon jeder einzelne Bruch ist eine lebensgefährliche Angelegenheit. Es können Blutungen entstehen oder Thrombosen. Wenn jede Bewegung einen Bruch erzeugen kann, bewegt man sich irgendwann gar nicht mehr. So war ich von 2005 bis 2012 praktisch zur Bewegungslosigkeit verurteilt.

Wie haben Sie das geschafft?

Brandt: Ich habe es vor allem überlebt. Denn in dieser Zeit wusste ich abends nicht, ob ich am Morgen wieder aufwache. Durch die Schädigung der Nieren steigt der Kaliumspiegel im Blut, was zu einem plötzlichen Herzstillstand führen kann. Hinrichtungen in den USA mit der Giftspritze werden mit Kalium gemacht. Und wenn du dir im Schlaf die Rippen brichst, kann das die Lungen schädigen.

Wie kann ein Mensch diese Situation ertragen?

Brandt: Man braucht eine sinnvolle Beschäftigung, man braucht eine neue Aufgabe, sonst schafft man es nicht. Es ist kein Zufall, dass ich in dieser Zeit den Verein gegründet habe, um anderen Betroffenen mit meinen Erfahrungen helfen zu können. Diese neue Lebensaufgabe habe ich gebraucht, um an der Krankheit nicht kaputtzugehen.

Wie gründet man in dieser Situation eine Selbsthilfeorganisation?

Brandt: Das Internet hat mir da sehr geholfen. In meiner Kindheit gab es das noch nicht, wie sollte ich andere Betroffene kennenlernen? Ich hatte viel Zeit und begann im Netz nach anderen Betroffenen zu suchen und mich mit ihnen auszutauschen. Die Ersten lernte ich in Kanada, USA und Frankreich kennen. In Frankreich gab es weltweit die erste Selbsthilfeorganisation für HPP. Wir in Deutschland waren dann 2006 die zweite.

Wenn Sie von heute auf 2006 zurückschauen, was hat die Gründung eines Selbsthilfeverbands bewirkt?

Brandt: Wir haben die Krankheit überhaupt erst ins Bewusstsein gebracht. Auch bei den Ärzten. Früher wurden die Symptome Osteoporose, der Glasknochenkrankheit, Arthritis oder anderen Erkrankungen zugeschrieben. Heute weiß man, wenn das entsprechende Enzym fehlt, oder eine zu geringe Aktivität hat, dass eine Hypophosphatasie der Auslöser ist. Gerade die sogenannte Erwachsenen-Form wurde früher praktisch nie diagnostiziert. Und bei mir selbst ja auch nur, weil die Krankheit in der Kindheit schon aufgetreten war. Heute kann man nicht mehr über Einzelfälle sprechen, allein in unserem Selbsthilfeverband sind über 100 Patientinnen und Patienten organisiert.

Gibt es auch neue Therapien.

Brandt: Es gibt eine Enzymersatztherapie, die unsere Gruppe beratend und begleitend mit auf den Weg gebracht hat: Denn die Firma, die das Ersatzenzym entwickelt hatte, hatte zwar einen Mechanismus entdeckt, aber keinerlei Erfahrungen mit der Krankheit, da konnte ich helfen. Aber nicht nur ich, sondern auch die Ärzte, die mich behandelten, und unser Patientenverband arbeiteten an der Entwicklung mit. Mittlerweile ist Würzburg ein weltweit anerkanntes Zentrum für die Krankheit. Ich selbst erhalte die Enzymersatztherapie und seitdem geht es mir schon deutlich besser. Ich kann mich wieder bewegen, ohne mir ständig die Knochen zu brechen. Die Therapie ist allerdings sehr, sehr teuer. So dass die Kasse sie aktuell nur bei wirklich schweren Fällen zulässt. Wenn es quasi um Leben und Tod geht. Für alle anderen haben wir noch keine wirklich zufriedenstellende Therapie, aber es gibt Forschungsansätze.

Dass ausgerechnet Würzburg zum europäischen Zentrum für die Krankheit wurde – ist das Zufall oder harte Arbeit?

Brandt: Beides. Zufällig gab es an der Kinderklinik mit Professor Hermann Girschick einen Experten für die Krankheit, bei dem ich mit der Gründung der Selbsthilfeorganisation offene Türen einrannte. Ich selbst hatte meine Ärzte im König-Ludwig-Haus. Dort interessierte sich der Osteologe Professor Franz Jakob für seltene Knochenkrankheiten. So hatten wir schon zwei Experten. Es schlossen sich weitere Würzburger Kliniken an, die wir aufgrund des Krankheitsverlaufs brauchten. So kam die Augen- und die Zahnklinik dazu. Vor allem Kinder leiden an erhöhtem Augendruck und starkem Zahnverlust. Aber auch die Radiologie und die Neurochirurgie gehörten zum klinischen Team, denn bei etwa einem Drittel der Kinder muss der Schädel operativ vergrößert werden. Durch diese Vernetzungen wurde Würzburg für Patienten immer interessanter. Heute verfügen das Universitätsklinikum und das König-Ludwig-Haus über Erfahrungen mit 150 bis 200 Patienten. Hinzu kommen Forschungsprojekte, die wir teilweise auch unterstützen konnten. So haben wir heute das europaweit größte Zentrum für HPP in Würzburg. Wichtig ist jetzt, das auch zu erhalten.

Ist das keine Selbstverständlichkeit?

Brandt: Wir hatten und haben da immer wieder Wechsel beim Personal. Für mich ist es deshalb höchste Zeit, den nächsten Schritt zu gehen und das Zentrum auf sichere Füße zu stellen. So fordern wir als Bundesverband der Selbsthilfe, dass die Hypophosphatasie-Zentren an der Uniklinik und am König-Ludwig-Haus Teil von eigens eingerichteten Zentren für seltene Skeletterkrankungen werden. Am liebsten wäre es uns allerdings, wenn es an mindestens einem dieser Zentren auch eine dezidierte W3-Professur für die Hypophosphatasie gäbe. Nachdem es uns in einer gemeinsamen Anstrengung mit den Forschern und Klinikern gelungen ist, den Standort Würzburg innerhalb von zehn Jahren beim Thema HPP an die Weltspitze zu befördern, ist es nun wichtig, diese Position langfristig zu sichern.

Wie können Sie Betroffenen Mut machen?

Brandt: Nach wie vor gibt es Eltern, die für ihr Kind die Diagnose bekommen, es werde mit dieser Krankheit nicht lange leben können. Das hängt natürlich immer vom Einzelfall ab. Aber ich kann diesen Eltern sagen, schaut ich lebe und meine Eltern bekamen diese Diagnose auch. Ich weiß aus eigener und der Erfahrung der Selbsthilfearbeit, dass Kinder, die HPP im frühen Stadium überleben, immer ganz besondere Menschen werden. Und die Tatsache, dass es mir heute wieder besser geht, kann auch erwachsenen Betroffenen Mut machen. Man muss sich dieser Krankheit, so schlimm sie ist, nicht ergeben.

Wenn Hypophosphatasie eine Volkskrankheit wäre, wäre sie heilbar?

Brandt: Wahrscheinlich. Zum einen würde sich die Enzymersatztherapie dann viel besser rentieren und stünde allen Betroffenen zur Verfügung, weil sie viel günstiger wäre. Wahrscheinlich sind wir sogar viel häufiger. Ein französischer Wissenschaftler hat aufgrund der Wahrscheinlichkeit des Gendefektes einmal hochgerechnet, dass theoretisch allein in Deutschland 15 000 Menschen an HPP erkrankt sein müssten. Die meisten haben eher unspezifische Symptome, unter denen sie aber dennoch leiden, sind aber nicht mit Hypophosphatasie diagnostiziert. Man nimmt Osteoporose, Rachitis oder gar Depressionen an. Was gefährlich ist, denn die gängigen Behandlungsmethode gegen Rachitis oder Osteoporose können Menschen mit HPP nachhaltig Schaden zufügen. Inzwischen wurde sogar herausgefunden, dass das AP-Enzym eine Rolle bei der Entwicklung von Alzheimer spielen kann. Ich bin überzeugt, dass die weitere Erforschung der alkalischen Phosphatase nicht nur bei der seltenen Krankheit Hypophosphatasie zu Fortschritten führen wird, sondern auch bei einigen der sogenannten Volkskrankheiten.

Heute ist der internationale Tag der Seltenen Erkrankungen

Seltene Krankheiten: Sind weniger als fünf von 10 000 EU-Bürgern betroffen, spricht man von einer seltenen Krankheit. Insgesamt gibt es weltweit über 8000 bekannte seltene Krankheiten. In Deutschland leiden über vier Millionen Menschen an einer davon. 80 Prozent sind genetisch bedingt. Therapien: Seit dem Jahr 2000 fördert die EU mit ihrer Orphan-Drug-Verordnung die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Krankheiten. 144 Orphan-Drugs wurden seitdem entwickelt. Trotzdem gibt es für 95 Prozent der seltenen Krankheiten aktuell noch keinerlei Behandlungsoption.

Aktionsbündnis: Seit 2010 arbeitet in Deutschland das Nationale Aktionsbündnis für Seltene Erkrankungen (NAMSE) daran, die Situation der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Die Zertifizierung von miteinander vernetzten Zentren für Seltene Erkrankungen wurde als wichtigste Maßnahme in diesem Nationalplan eingestuft. Mittlerweile gibt es in Deutschland 30 solcher Zentren, ihnen fehlt jedoch eine qualitätssichernde Anerkennung, die zugleich ihre Finanzierung sicherstellen würde. Außerdem endet die Finanzierung des NAMSE 2018. Der Dachverband aller Selbsthilfegruppen für seltene Krankheiten, die Allianz Chronisch Seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.) fordert deshalb alle Beteiligten auf, den nationalen Aktionsplan auf eine rechtliche Grundlage zu stellen und weiterzuentwickeln. (www.achse-online.de) 

In Würzburg findet am 3. März der vierte bayernweite Tag der Seltenen Erkrankungen statt. Die Veranstaltung beginnt um 10.30 Uhr im Zentrum für operative Medizin (ZOM) der Uniklinik Würzburg. Für die Workshops ab 13.30 Uhr war eine Voranmeldung nötig, jedoch sind noch Plätze frei. So kann das Fachforum zum Thema Schmerz im Hörsaal des ZOM auch unangemeldet besucht werden.

Hypophosphatasie: Weiterführende Informationen zur Krankheit unter: www.hpp-ev.de

 
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