
Was zu Jahresbeginn noch nahezu utopisch erschien, hat die Coronakrise in atemberaubender Geschwindigkeit möglich gemacht: Erstmals in ihrer Unternehmensgeschichte lud die Rhön-Klinikum AG in Bad Neustadt diese Woche ihre Aktionäre zu einer virtuellen Hauptversammlung ein. Ausschließlich online und nur nach Voranmeldung konnten sie der Veranstaltung dank eines im Schnelldurchlauf erlassenen Gesetzes beiwohnen. Ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie die Digitalisierung in fast allen gesellschaftlichen Bereichen seit dem Ausbruch der Pandemie auf dem Vormarsch ist. Parteitage, Konferenzen, Vorlesungen, Konzerte, ärztliche Beratungen: alles findet plötzlich wie selbstverständlich im Netz statt – endlich!
Denn Deutschland läuft im EU-weiten Vergleich digital seit Jahren hinterher. Das zeigt allein der Blick auf die Qualität des LTE-Netzes: Die Bundesrepublik rangiert auf Platz 54 - von 87 Ländern. Hauptursache ist die mangelhafte Infrastruktur. Gerade auf dem Land, wo das schnelle Netz besonders gebraucht wird, sieht es laut einer aktuellen Studie des Bundeswirtschaftsministeriums in zahlreichen Orten trübe aus. „Das Funkloch wird vom ärgerlichen Phänomen zur dauerhaften, urdeutschen Institution“, bringt der Blogger und Autor Sascha Lobo die politischen Versäumnisse auf den Punkt.
Die Regierung hat auf den letzten Drücker die Zeichen der Zeit erkannt
Doch Deutschland hat nicht nur den Breitband- und Glasfaserausbau verschlafen. Die Pandemie und ihre Folgen haben elementare Defizite bei der Digitalisierung schonungslos offen gelegt. Ob Behörden, Schulen, Unternehmen – etliche andere Länder sind viel weiter. Immerhin scheint das Land dank der Corona-Erfahrungen gerade noch rechtzeitig aus dem digitalen Dornröschenschlaf zu erwachen. Der Sozialwissenschaftler Tilman Santarius erkennt aktuell sogar „einen riesigen Sprung Richtung Digitalisierung“.
Zum Glück scheint auch die Bundesregierung auf den letzten Drücker die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Denn ihr 130-Milliarden-Euro umfassendes Konjunkturpaketfördert vor allem dringend notwendige digitale Vorhaben. Verwaltung, Bildung, Wirtschaft, Gesundheitswesen: Die große Koalition schüttet das Füllhorn über allen aus.
„Die Corona-Pandemie demonstriert auf vielerlei Weise, dass gerade in der öffentlichen Verwaltung ein Digitalisierungsschub notwendig ist“, heißt es im 15-seitigen Eckpunktepapier „Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken“. Symptomatisch für die Rückständigkeit ist die Arbeit vieler Gesundheitsämter. Sie übermitteln ihre Daten zu Corona-Infektionen nach wie vor größtenteils per Fax an das Robert Koch-Institut. Dort werden sie dann per Hand abgetippt …
Viele Lehrkräfte nutzen für digitalen Unterricht ihre privaten Geräte
Gleichzeitig hat die Krise gezeigt, wie wichtig digitales Lernen ist. Deshalb sollen nach dem Willen der Regierung künftig alle Schulen „in die Lage versetzt werden, Präsenzunterricht und E-Learning zu Hause miteinander zu verbinden“. Das ist längst überfällig. Denn viele Lehrerinnen und Lehrer nutzen für digitalen Unterricht ihre privaten Geräte – in Schulen gibt es nicht genügend Tablets und Laptops, wie eine Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigt.
Für Deutschland steht viel auf dem Spiel. Es geht um die Zukunftsfähigkeit des Landes. Schafft es den digitalen Anschluss oder droht das Schicksal, zur verlängerten Werkbank des Silicon Valley zu werden? Fest steht: Die Zeiten sind vorbei, da die Bundesrepublik sich auf ihre Ingenieurs- und Handwerkskunst, die Qualität ihrer Produkte und das weitgehend reibungslose Funktionieren des öffentlichen Alltags verlassen konnte. Das Konjunkturpaket ist nur ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Unterm Strich hat die ganze Digitalisierung mehr zur Verblödung, menschlicher Kälte, falschen Vorstellungen und Förderung der internationalen Kriminalität beigetragen, als die genutzt hat. Klar ist es schön, das umfassende Archivarbeit komfortabel digital abgerufen werden kann und kistenweise Karteikarten selbst auf kleinsten Sticks abgespeichert werden können. In der Schaden-Nutzen-Abwägung sehe ich keinen Grund Digitalisierung auf Teufel-komm-raus zu forcieren.
Ich sehe großen Nutzen darin, Kinder statt vor den Laptop hinaus auf Wandertage zu schicken, Geschäftspartner bei festem Händedruck direkt in die Augen schauen zu können und analog per Hand gefüttertes Fleisch zu essen, statt aus computergesteuerten Mastställen! Und kein youtube-Video kann ein Live-Konzert ersetzen.