Es ist der übliche Reflex: Begehen Kinder oder Jugendliche abscheuliche Verbrechen, lässt der Ruf nach strengeren Strafen nicht lange auf sich warten. So hatte beispielsweise 2008 der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) im Wahlkampf eine kontroverse Debatte entfacht. Auslöser war eine brutale Attacke von zwei jungen Menschen gegen einen Rentner in der Münchner U-Bahn. Koch forderte seinerzeit nicht nur eine härtere Gangart der Justiz gegenüber kriminellen (ausländischen) Heranwachsenden. Er plädierte auch dafür, das Jugendstrafrecht bei unter 14-Jährigen anzuwenden. Ohne Folgen.
Gerade erleben wir die x-te Neuauflage dieser Diskussion. Anlass ist die Vergewaltigung einer jungen Frau in Mühlheim an der Ruhr. Tatverdächtig sind drei 14-Jährige und zwei Zwölfjährige. Diesmal hat unter anderem der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, den Evergreen angestimmt, dass Kinder bereits ab dem zwölften Lebensjahr strafmündig sein sollten. "Es geht nicht darum, Kinder in den Knast zu stecken, sondern darum, die Möglichkeiten von Richtern zu nutzen, Auflagen zu erteilen, zu ermahnen und zu verwarnen", erläutert der konservative Hardliner seinen öffentlichkeitswirksamen Vorstoß.
Härtere Strafen führen nicht zu weniger Kriminalität
Da hat der vorlaute Polizeifunktionär allerdings die Rechnung ohne den Wirt, sprich: die Richter gemacht. Der Richterbund, Interessensverband der deutschen Richter und Staatsanwälte mit fast 17 000 Mitgliedern, hält nämlich nichts von der wiedergekäuten Idee einer Strafmündigkeit ab zwölf Jahren. Ihr Vorsitzender Jens Gnisa hat in dieser Frage eine klare Haltung: "Die Gleichung 'Mehr Strafrecht gleich weniger Kriminalität' geht bei den Jugendlichen nicht auf."
Das leuchtet ein. Kinder und Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen, leben meist in schwierigen sozialen Verhältnissen. Diese jungen Leute dann mal für vier Wochen wegzusperren, löst das Problem nicht. Zumal bei Kindern unter 14 Jahren nach Einschätzung von Experten die strafrechtliche Verantwortung aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch nicht ausreichend vorhanden ist. Was sie deshalb brauchen, ist Hilfe und Unterstützung. Und in dieser Hinsicht verfügt der Staat heute schon durch Jugendämter und Familiengerichte über genügend Möglichkeiten – bis dahin, dass Eltern das Sorgerecht entzogen werden kann und die Kinder in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht werden.
Rein statistisch gibt's keinen Grund für Alarmstimmung
Rein statistisch gibt es übrigens keinen Grund, Alarmstimmung zu verbreiten. Jörg Radek, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und eine Art Anti-Wendt, verweist auf eine positive Entwicklung: Demnach geht die Zahl der tatverdächtigen Kinder seit 2011 zurück. In der Polizeistatistik 2018 machen sie 3,4 Prozent aller Tatverdächtigen aus. "Wir müssen uns diesen Jugendlichen widmen, aber nicht, um sie wegzusperren, sondern damit wir sie in dieser Gesellschaft sozialisieren", fordert Radek zu Recht.
Was die Kriminalstatistik ebenfalls aussagt: Die meisten Taten von Kindern sind Bagatelldelikte. Auf das Konto von unter 14-Jährigen gehen vor allem Ladendiebstähle. Die schlimme Straftat in Mülheim ist also alles andere als typisch für Kinder- und Jugendkriminalität. Das bestätigt auch der Jugendrichter und Buchautor Andreas Müller im Gespräch mit dem Deutschlandfunk: "Es sind Einzelfälle und Sie werden nicht einen einzigen Fall – und ich bin 25 Jahre Jugendrichter und ich habe auch 13-Jährige schon im Auge gehabt – verhindern können, indem Sie für Millionen von Kindern das Strafmündigkeitsalter nach unten bringen."
Wenn nicht alles täuscht, wird zum Glück auch die aktuelle Welle der Empörung – wie damals beim Koch-Vorstoß – ohne Folgen bleiben. Doch die nächste Wallung kommt bestimmt...