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Kommentar: Ist die Spaltung der Gesellschaft noch zu stoppen?
Immer mehr Menschen sorgen sich um den Zustand der Demokratie. Dabei kann jeder von uns dazu beitragen, das polarisierte Klima in Deutschland zu verbessern.
Es scheint so, als komme immer mehr Menschen die Fähigkeit abhanden, sich respektvoll miteinander zu streiten. Alle pochen auf ihr Recht. Kompromisse gelten als Zeichen von Schwäche. Zusätzlicher Beschleuniger sind die Kontroversen um die Corona-Politik.
Foto: Romina Birzer | Es scheint so, als komme immer mehr Menschen die Fähigkeit abhanden, sich respektvoll miteinander zu streiten. Alle pochen auf ihr Recht. Kompromisse gelten als Zeichen von Schwäche.
Michael Reinhard
Michael Reinhard
 |  aktualisiert: 08.02.2024 18:09 Uhr

Wenn die Rede auf den früheren Bundespräsidenten Johannes Rau kommt, dann dauert es meist nicht lange, bis sein Lebensmotto zitiert wird: "Versöhnen statt spalten". Es war der Leitgedanke seiner Kanzlerkandidatur im Jahr 1987. Der Slogan ist heute so aktuell wie damals. Denn es scheint so, als komme immer mehr Menschen die Fähigkeit abhanden, sich respektvoll miteinander zu streiten.

Auffallend oft stehen sich verschiedene gesellschaftliche Lager unversöhnlich gegenüber. Alle pochen auf ihr Recht. Kompromisse gelten als Zeichen von Schwäche. Vor allem Twitter, Facebook & Co verstärken diese Entwicklung. Zusätzlicher Beschleuniger sind die Kontroversen um die Corona-Politik. Angesichts dieses polarisierten Klimas in Deutschland werden Warnungen vor einer Spaltung der Gesellschaft lauter. Ist die Demokratie in Gefahr? Das befürchten Kreise aus Politik, Wissenschaft und Gewerkschaften, aber auch zahlreiche Leserinnen und Leser.

Zwei extrem gegensätzliche Haltungen stehen sich unversöhnlich gegenüber

So schilderte ein Seelsorger aus der Region gegenüber dieser Redaktion seine Erfahrung, "dass die Menschen mehr und mehr in unüberwindliche Gräben getrieben werden. Das hoch sensibel ernst zu nehmen, ist gerade jetzt im höchsten Maße gefordert, wenn wir als freiheitliche Demokratie und vor allem als verantwortungsvolle Gesellschaft weiterhin bestehen wollen."

Wie berechtigt die Sorge des Geistlichen ist, zeigt eine jüngst veröffentlichte Studie. Sie kommt zu einem beunruhigenden Ergebnis: Migration, Finanzkrisen, Klimawandel oder die Pandemie befeuern Kontroversen. Diese könnten sich weiter verschärfen. Denn das Forscherteam der Universität Münster hat hierzulande zwei verfestigte Lager "mit extrem gegensätzlichen Haltungen" aufgespürt. Zu ihnen zählt "ein erheblicher Teil der Bevölkerung".

In den beiden Blöcken seien Einstellungen komplett entgegengesetzt, wenn es um nationale Zugehörigkeit, Demokratie oder Vertrauen in die Politik gehe. Auch beim Gefühl einer Bedrohung durch Migranten und Muslime oder einer gefühlten eigenen Benachteiligung zeigten sich starke Unterschiede. Nach Ansicht der Forschenden ist es erstaunlich, "wie weit die Positionen über ganz viele Konfliktthemen hinweg auseinanderliegen". Dieser Identitätskonflikt löse sich nicht von allein.

Demokratie funktioniert nicht über Sieg oder Niederlage, sondern über ein Unentschieden

Die Empfehlung der Studie erinnert stark an Johannes Raus "Versöhnen statt spalten": Um die verfahrene Situation zu lösen, solle Politik sich nicht auf eine Seite schlagen, raten die Autoren. Es brauche vielmehr Kompromisse, um legitime Bedürfnisse wie Stabilität und Sicherheit einerseits sowie Offenheit und Wandel andererseits in Einklang zu bringen. Bei Rau klang das so: "Ich will Konflikte aufdecken, aber ich will dies um den Konsens willen. Das heißt, ich will vom Konflikt über den Streit zum Konsens kommen."

Dahinter steckt die Erkenntnis, dass Demokratie nicht über Sieg oder Niederlage funktioniert, sondern über ein Unentschieden, wie die Soziologin Julia Mourão Permoser im "Spiegel" treffend formulierte. "Wenn die Parteien immer weiter auf diese Polarisierung setzen, kommt keiner mehr zu Kompromissen zusammen und das ganze System wird instabil."

Jeder von uns hat es in der Hand, für eine gesittete Debattenkultur zu sorgen – weg von der erregten inhaltlichen Zuspitzung, hin zu einer von Argumenten und Wertschätzung geprägten Diskussion. Hart in der Sache, moderat im Ton. Das bedeutet auch: Differenzen aushalten, zuhören und anerkennen, dass das Gegenüber ebenfalls von ehrbaren Motiven geleitet sein und recht haben kann. Niemand muss deshalb künftig mit Wattebäuschen werfen. Denn nach wie vor gilt die Erkenntnis des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt: "Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine."

 
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