Die Corona-Krise ist noch immer eine junge Krise, und trotzdem fühlt es sich an, als würde die ganze Welt aus den Angeln gehoben: Es ist von einem drohenden Kollaps des Gesundheitssystems die Rede, die Börsenmärkte brechen ein und Unternehmen fangen bereits an, Stellen auf Kosten von Arbeiter*innen zu streichen. Unternehmen aller Größen und verschiedenster Art sind existenziell bedroht und auf finanzielle Hilfe des Staates angewiesen.
In solchen Extremsituationen zeigt sich das fragile Fundament, auf dem die Gesellschaft gebaut ist, besonders deutlich: Die vom Konsum abhängige, kapitalistische Marktwirtschaft. Ein System, zum Vorteil von Wenigen, ertragen von Einigen und zum Leiden von Vielen. Eine Konstruktion, die tief im Denken und Handeln aller Menschen verankert ist.
Wer gute Noten will, muss eine angepasste Arbeitsmaschine sein
Bereits in der Schule lernen wir uns als Konkurrent*innen zu sehen, werden nach kürzester Zeit nach Leistungen sortiert und sollen möglichst gut auf das Arbeitsleben vorbereitet werden. Wer gute Noten und Erfolg will, muss eine angepasste, produktive Arbeitsmaschine sein. Das zeigt nicht nur den autoritären Charakter, den das Bildungswesen in sich trägt, sondern auch die Dominanz des Leistungsprinzips gegenüber allen anderen für das gesellschaftliche Zusammenleben elementaren Fähigkeiten.
Die eindimensionale Kategorisierung von Menschen ist überall präsent und führt schließlich auch dazu, wie unterschiedliche Berufsgruppen bewertet werden. Paradoxerweise wird seit Kurzem täglich dankbar für die Krankenpfleger*innen applaudiert, die seit Jahrzehnten mit Zustimmung der Mehrheitsgesellschaft ausgebeutet werden und deren Hilfe "jetzt" so dringend gebraucht wird.
Die von der "sozialen Marktwirtschaft" suggerierte solidarische, freie Gesellschaft bleibt weiterhin eine Illusion und Utopie. Zum einen, weil dieses "sozial" (wenn überhaupt) nur für die Glücklichen gilt, die zufälligerweise innerhalb der Landesgrenzen geboren wurden. Zum anderen, weil dieses "sozial" vollständig an die Wirtschaftssituation gekoppelt ist und die soziale Sicherheit nicht von der solidarischen Gesellschaft an sich getragen wird.
Wäre die Gesellschaft solidarisch, hätten nicht tausende unabhängige Kleinunternehmer*innen Armutsangst und Existenznot. Der anerzogene, tief verankerte Egoismus und der Einzelkämpfergeist waren schon vor den Hamsterkäufen deutlich sichtbar. Sie spiegeln sich täglich in allgemeiner Akzeptanz von Ausbeutung, Hierarchie und sämtlicher anderer Ungerechtigkeiten wider.
Wollen wir in Zukunft so weiterleben?
Wie in der Finanzkrise von 2008 wird die jetzige Wirtschaftskrise erneut zu einer Welle von Arbeitslosigkeit führen, die gravierenden soziale Probleme mit ans Ufer spült: Einschneidungen im Gesundheitssystem, Kürzung der öffentlichen Gelder, Schließung von sozialen und kulturellen Einrichtungen, um nur einige davon zu nennen. Dabei ist der Beton, auf den benachteiligte Menschen fallen, besonders hart.
- Positive Impulse für den Tage: Unsere Serie "Der gute Morgen"
Das geschieht großteils, weil dazu angehalten ist, zu Hause zu bleiben und damit der Konsum massiv eingedämmt wird – damit ist nicht der Konsum der Grundbedürfnisse gemeint, sondern der alltäglich von Werbung und sozialen Medien induzierte Konsum, der das kapitalistische Rad Jahr für Jahr weiter beschleunigt. Derselbe Konsum, der, wenn er mal nicht vorhanden ist, in der Lage ist, die komplette Weltwirtschaft lahmzulegen. Die heutige Gesellschaft muss sich die Frage stellen, ob sie auch in Zukunft weiterhin ein Zusammenleben will, das nur für einen Teil der Menschen Sicherheit garantiert und das nur solange, bis in der Wirtschaft Schwierigkeiten auftreten. Ein Wirtschaftssystem, das permanent Ungleichheit produziert, von Ausbeutung lebt und durch die Konsumabhängigkeit außerdem nicht nachhaltig sein kann, sollte nicht das Fundament einer Gesellschaft sein.
Es ist Zeit, in das hässliche Gesicht zu blicken, dass uns der Spiegel der Krise zeigt und neue Ideen zu entwickeln. Wie kann eine solidarische und gewaltfreie Gesellschaft erreicht werden, die keine Menschen ausschließt? Wie kann ein Wirtschaftssystem aussehen, das weder Mensch noch Natur ausbeutet? Wie kann sich die autoritäre, materialistische Konsum- und Leistungsgesellschaft hin zu einer freien, selbstbestimmten Solidargemeinschaft emanzipieren? Es geht dabei nicht darum, die Mehrheitsgesellschaft möglichst gut vor Krisen zu schützen, sondern darum, größtmögliche Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit für alle und permanent herzustellen. Die Ideen dazu sind da, aber sie müssen im Kontext der modernen Technologiegesellschaften neu gedacht werden. Dann ist es vielleicht irgendwann nicht mehr der Markt, sondern eine grenzenlose Solidarität, die die Gesellschaft zusammenhält.
Lukas Ziegler (25) studiert Physik im Master an der Universität Würzburg und engagiert sich in der Katholischen Hochschulgemeinde Würzburg.