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BERLIN
Frau Nahles, bei der Rente fühle ich mich versumpfhuhnt!
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:21 Uhr

Als Peer Steinbrück in die SPD eintrat, ging er davon aus, dass bei den Parteien die Zuordnung „von Sumpfhühnern und Schlaubergern ziemlich einseitig“ sei. Inzwischen habe er aber begriffen, „dass die Verteilung solcher Sumpfhühner und Schlauberger in und zwischen den Parteien der Normalverteilung der Bevölkerung folgt.“ So erzählte er es kürzlich in seiner Abschiedsrede im Bundestag, allerdings ohne diese Normalverteilung zu beziffern. Aber mit Zahlen ist das ja so eine Sache. Da wollen sich Politiker nur selten festlegen. Auch Sie nicht bei der Rente, liebe Frau Nahles. Sie wissen schon, jenes Thema, bei dem es der Politik gelegen käme, wenn es deutlich mehr Sumpfhühner in der Bevölkerung gäbe als Schlauberger. Jedenfalls ist das mein Gefühl – nicht erst seit vergangenem Dienstag.

Lesen Sie auch die Antwort von Andrea Nahles auf den Samstagsbrief

Da kündigten Sie in den „Tagesthemen“ an, „wenn wir uns darauf verständigen, dass das Rentenniveau stabilisiert werden wird, dann müssen wir auch ehrlich sein: Es wird mehr kosten“. Wenn Politiker den Ehrlichkeitsgehalt einer Aussage betonen, sollte man darauf achten, was sie nicht sagen. Sie sagten zum Beispiel nicht, dass schon heute die Rente für viele zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist.

Aber laut ihrem Parteifreund und Vorgänger im Arbeitsministerium Franz Müntefering muss ja jemand nicht zwangsläufig arm sein, nur weil er auf lediglich 600 Euro Altersrente kommt. Stimmt. Es gibt ja noch Lotto.

Sehen wir uns Ihre Aussagen vom Dienstag weiter an: „Es wird dann auch ausgewiesen werden von mir“, erklärten Sie vor dem Hintergrund der steigenden Kosten, „dass eben die Beiträge nicht auf den 22 Prozent stehen bleiben, die wir jetzt im Gesetz festgeschrieben haben.“ Schon vor dem Interview hatten Sie betont, dass die „Beiträge nicht in den Himmel schießen“ dürften. Wo Sie glauben, dass der Himmel anfängt – nicht religiös, sondern zahlenmäßig – blieb Ihr Geheimnis. Aber wie gesagt: Mit Zahlen ist das so eine Sache, und Ihr Ministerium rechnet ja noch.

Ich frage mich aber schon, wann Beiträge aus Ihrer Sicht sozusagen astronomische Höhen erreichten und vor allem wie Sie oder gegebenenfalls Ihr Nachfolger dann reagieren würden. Denn ein Ende des demographischen Wandels, der für die übrigens seit Jahrzehnten bekannte Gleichung „sinkende Geburtenraten plus höhere Lebenserwartung gleich Loch in der Rentenkasse“ verantwortlich ist, ist nicht in Sicht. Auch wenn Forscher diese Woche herausgefunden haben wollen, dass rein statistisch kein Mensch jemals älter als 125 Jahre werden kann. Noch steigt die Lebenserwartung schließlich. Und mit ihr wird sich auch die Dauer des Arbeitslebens verlängern müssen. Eine Wahrheit, die der Wähler nicht gerne hört. Vermutlich schwiegen Sie sich deswegen auch zu diesem Thema aus – obwohl für Sie die Rente ja gar kein Wahlkampfthema ist. Warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil keine besseren Ideen zur Lösung des Rentendilemmas auf dem Tisch liegen, als kreativlose Beitragserhöhungen? Dabei dachten doch gerade Sie früher eher unkonventionell. Forderten auch von Ihrer Partei eher Revolutionen statt Reformen.

Was Sie jetzt planen, verkaufen Sie als eine Art Investition in die Zukunft. Das klingt immer gut. Nutznießer wären aber zunächst die älteren Arbeitnehmer. Ich will keine Neiddebatte anstoßen, aber es ist nun einmal so: Die Zeche zahlt die jüngere Generation. Die Menschen, für die Sie sich auch „eine anständige Rente“ wünschen. Die Generation, die laut Ihren Worten „auch 2045 noch Vertrauen in die gesetzliche Rente“ haben soll. Ich bin Jahrgang 1982. Mein frühestmöglicher Rentenbeginn bei Inkaufnahme von Abschlägen wäre – Stand heute – in dem Jahr, um das es bei Ihren neuen Berechnungen geht: 2045. Regulärer Rentenbeginn: vier Jahre später.

Doch Vertrauen, dass ich einmal von einer gesetzlichen Rente leben kann, habe ich nicht. Damit bin ich nicht allein. Private Vorsorge heißt das Zauberwort – beim aktuellen Zinsniveau ist das zwar allenfalls fauler Zauber, aber ein Strohhalm, an den sich klammern kann, wer nach allen Abzügen noch etwas zum Sparen übrig hat. Für meine Generation sieht es doch so aus: Wir sollen den Rententopf füllen, in den auch für die „Mütterrente“ und die Angleichung der Ost-Renten an West-Niveau gegriffen werden soll.

Und nicht nur unsere Rentenbeiträge, sondern auch die Abgaben für Pflege- und Krankenversicherung werden steigen. Unterm Strich werden wir einmal mehr eingezahlt haben, als wir im Alter zurückbekommen. Steigende Preise bei sinkendem Inhalt quasi. Das kannte man sonst von Zigarettenschachteln. Daher fühle ich mich versumpfhuhnt– für dumm verkauft.

Aber auch ich will ehrlich sein: Eine überzeugende Lösung habe ich auch nicht. Wenn mir etwas einfällt, bewerbe ich mich um eine Stelle in Ihrem Beraterstab – dann hätte ich als Ministeriumsmitarbeiter womöglich sogar Ansprüche auf eine Pension. Das aber nur am Rande.

Eine Lösung zu finden, ist Ihr Job. Dabei wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand.

Mit freundlichen Grüßen

Benjamin Stahl

Einer bekommt Post! – Der „Samstagsbrief“

Künftig lesen Sie auf der Meinungsseite am Wochenende unseren „Samstagsbrief“. Was das ist? Ein offener Brief, den ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Figur des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An eine Person, der wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert wird der „Samstagsbrief“ sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der „Samstagsbrief“ ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir vom Adressaten Post zurück. Die Antwort und den Gegenbrief, den Briefwechsel also, finden Sie dann auf jeden Fall bei allen Samstagsbriefen hier. Und vielleicht bietet die Antwort desjenigen, der den Samstagsbrief zugestellt bekommt, ja auch Anlass für weitere Berichterstattung – an jedem Tag der Woche.
 
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  • pbxydo@freenet.de
    mein Vater ging 1985 im Alter von 62 und mit 49 Arbeitsjahren im gleichen Betrieb in Rente. Er bekam 66 % vom Nettolohn gesetzliche Rente und der Betrieb stockte auf 100 % auf. Seitdem waren immer nur die großen Parteien in der Regierung. Die sind dran schuld, dass die Rente am Boden ist. Solange da sich nichts ändert, ....
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