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SAMSTAGSBRIEF
Wie kann man als Demokrat Erdogan wählen?
Erdogan-Anhänger       -  Feiernde Erdogan-Anhänger in Deutschland nach der gewonnen Wahl.
Foto: Lefteris Pitarakis/AP | Feiernde Erdogan-Anhänger in Deutschland nach der gewonnen Wahl.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:57 Uhr

Liebe Deutsch-Türken,

ich kann nicht verhehlen, dass es mich ratlos macht, wie viele von Ihnen am Sonntag Erdogan gewählt haben. Es gibt zwar die Argumentation, so viele seien es gar nicht gewesen – aber 430 000, das sind zu viele. Die Rechnung geht so: Etwa 2,8 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Deutschland. Knapp 1,5 Millionen sind türkische Staatsbürger, 1,44 Millionen wahlberechtigt. Von denen sind 46 Prozent (übrigens eine deutliche niedrigere Wahlbeteiligung als in der Türkei) zur Wahl gegangen, macht 662 400 Wähler. Und von diesen haben 64,8 Prozent für Erdogan gestimmt, also knapp 430 000 Menschen.

Wie man es dreht und wendet, es haben sehr viele Menschen für einen Präsidenten gestimmt, der sich mit vielen Mitteln Stück für Stück zum Diktator vorarbeitet. Seit Juli 2016 regiert er mit Notstandsdekreten, dank Verfassungsänderung ist er gleichzeitig Staatspräsident und Regierungschef, er kann stärker Einfluss auf die Justiz nehmen als je zuvor. Der Europarat hat das einen „dramatischen Rückschritt der demokratischen Ordnung“ genannt. Wer Erdogan kritisiert, Oppositionelle wie Journalisten, wird als Terrorist ins Gefängnis geworfen. Nach jeder Wahl werden Vorwürfe von Manipulation und Einschüchterung laut. Erdogan hingegen stellt sich selbst als Retter der Demokratie dar.

Wie passt das zusammen?

Aber was erzähle ich Ihnen das, Sie haben hier ja – im Gegensatz zur Türkei – Zugang zu jeder Menge freier und sauber recherchierter Information. Sie könnten all das wissen. Sie könnten auch wissen, dass Deutschland ein anderer Staat ist als die Türkei. Hier schützen Recht und Gesetz auch und gerade die Schwachen und die Kritischen. Hier herrscht echte Meinungsfreiheit, hier herrscht echte Gewaltenteilung.

Wie also passt das zusammen? Wünschen Sie sich, liebe Deutsch-Türken, die Sie für Erdogan gestimmt haben, in Deutschland Zustände wie in der Türkei? Dann wären Sie damit nicht alleine, meint jedenfalls Cem Özdemir, ehemals Grünen-Vorsitzender, per Twitter: „Die feiernden deutsch-türkischen Erdogan-Anhänger feiern nicht nur ihren Alleinherrscher, sondern drücken damit zugleich ihre Ablehnung unserer liberalen Demokratie aus. Wie die AfD eben.“

Glücklicherweise gibt es auch andere Stimmen. Etwa diesen Facebook-Post eines Deutsch-Türken: „Keine Handlung ist an Absurdität zu übertreffen, als in einem Land zu leben, dessen freiheitlich demokratische Grundordnung auf der Gewaltenteilung basiert und alle Vorzüge vollumfänglich zu genießen und gleichzeitig gegen die Gewaltenteilung eines anderen Landes abzustimmen und obendrein das Ganze als demokratischer zu propagieren.“

Deutschland hat es Ihnen nicht leicht gemacht ...

Was also spricht dafür, als in Deutschland lebender türkischer Wahlberechtigter Erdogan zu wählen? Ich würde es gerne verstehen. Ich weiß natürlich, dass dieses Land es Ihnen nie leicht gemacht hat. Als die erste Generation Türken nach Deutschland kam, gingen beide Seiten davon aus, dass sie das Land irgendwann wieder verlassen würden. Daher der Ausdruck „Gastarbeiter“. Vielleicht war das der Grund, warum sich beide Seiten nie so richtig um ein Miteinander bemüht haben.

Ich kann nachvollziehen, wenn ein Gefühl der Fremdheit geblieben ist. Wenn viele von Ihnen sich zwischen zwei Welten zerrissen fühlen – selbst wenn sie der bereits dritten Generation angehören und die Türkei nur aus dem Urlaub kennen. Niederträchtige Slogans wie „Ausländer raus!“, die unselige Diskussion, ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht, oder die Debatte über eine Leitkultur mit dem (vorläufigen) Höhepunkt des bayerischen Kreuz-Erlasses haben dabei sicher nicht geholfen. Ja, und ich kenne natürlich auch den Satz „Erdogan hat uns unseren Stolz zurückgegeben“.

... aber Erdogan-Lager übt massiven Druck aus.

Ich weiß aber auch, dass das Erdogan-Lager auf vielen Kanälen massiv Druck in Deutschland macht. Offenbar ist es gelungen, in weiten Kreisen der Wählerschaft die Stimme für Erdogan zu so etwas wie einer gesellschaftlichen Pflicht zu machen. Erdogan-Skeptiker oder gar -Gegner werden auch in Deutschland als Abtrünnige oder Verräter diffamiert und ausgegrenzt.

„Viele Türken entscheiden rein emotional, ohne an die Konsequenzen zu denken“, erzählte mir ein resignierter Deutsch-Türke. „Außerdem sind sie von ihrer Erziehung her amtshörig – hochgestellte Persönlichkeiten werden grundsätzlich nicht kritisiert. Wer nicht zum Außenseiter werden will, wählt dann eben Erdogan.“

Aber es macht es nicht besser, wenn die Gegner der Demokratie dank Mitläufertum oder Einschüchterung an die Macht kommen. Die Demokratie braucht aktive Verteidiger. Egal wo und egal, woher sie stammen. Wenn uns das gelänge, Deutschen und Deutsch-Türken gemeinsam, dann hätten wir alle miteinander einen echten Grund stolz zu sein.

Mit den besten Empfehlungen

Mathias Wiedemann

Einer bekommt Post! – Der „Samstagsbrief“

Jede Woche lesen Sie auf der Meinungsseite am Wochenende unseren „Samstagsbrief“. Was das ist? Ein offener Brief, den ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Figur des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An eine Person, der wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert wird der „Samstagsbrief“ sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der „Samstagsbrief“ ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir vom Adressaten Post zurück. Die Antwort und den Gegenbrief, den Briefwechsel also, finden Sie dann auf jeden Fall bei allen Samstagsbriefen hier. Und vielleicht bietet die Antwort desjenigen, der den Samstagsbrief zugestellt bekommt, ja auch Anlass für weitere Berichterstattung – an jedem Tag der Woche.
 
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Kommentare
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  • jebusara@web.de
    Die Frage "wie kann man nur" sollten sich auch die Deutschen stellen!
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  • hm.hauck@t-online.de
    Da sieht man wie die doppelte Staatsbürgerschaft missbraucht werden kann.Entweder man ist Türke oder Deutscher.Desweiteren kann nicht sein hier die ganzen demokratischen Freiheiten genießen und in Ihren Heimatland wo sie nur noch zu Besuch kommen einen Diktator zu wählen denn sie nicht ertragen müssen.
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  • MedDeeg@web.de
    Die Frage könnte auch lauten: "Wie kann man als Demokrat Söder wählen?" - gerade an die, die Türken kritisieren!

    Worin liegt der Reiz, aufgemandelten Mackern, Blendern und Phrasendreschern nachzulaufen und ihren billigen Feindbildern und Manipulationen zu verfallen? So generell!

    Zitat oben ...."Sie (die Türken) könnten auch wissen, dass Deutschland ein anderer Staat ist als die Türkei. Hier schützen Recht und Gesetz auch und gerade die Schwachen und die Kritischen. Hier herrscht echte Meinungsfreiheit, hier herrscht echte Gewaltenteilung."....

    Vor allem in Bayern!!

    Was wohl Gustl Mollath dazu sagt, um nur EIN Beispiel zu nennen!? Kritiker werden hier nicht mundtot gemacht, nein?

    Und wie diffamierte der CSU-Minister vor kurzem 30.000 Bürger: "Herrmann wirft PAG-Gegnern "Lügenpropaganda" vor".

    Die fantastischen CSU-Gesetze - "PsychKHG", super - haben demnach wohl nur den "Schutz" der Kritischen im Sinn - und nicht etwa einen Kontroll-und Repressionsstaat, Erdogan-"Style"!?
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  • MedDeeg@web.de
    Wenn man wissen will, woher der Frust (und die Metamorphose Erdogans zum Anti-Europäer) kommen, braucht man nur zu lesen, hier Bericht von 2004 (!) z.B. - CDU/CSU hat das Klima vergiftet, als man auf gutem Weg war:

    ...."Aus den Reihen von CDU und CSU kam scharfe Kritik an der positiven Empfehlung der EU-Kommission. ... "konsequenterweise im Dezember die Notbremse ziehen". Aus heutiger Sicht könne es keine Vollmitgliedschaft der Türkei geben ohne die politische Union Europas "vollständig in Frage zu stellen".

    ...dass der EU-Beitritt der Türkei für Deutschland jährlich "einen zusätzlichen Beitrag von sechs Milliarden Euro bedeuten" ...

    Der CSU-Europaabgeordnete Bernd Posselt warnte davor, der Kommissionsempfehlung blindlings zu folgen. "Der Zug der Lemminge endet immer tödlich, , in diesem Fall für die politische Integration Deutschlands", so Posselt."

    http://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-beitrittsverhandlungen-tuerkei-erhaelt-offizielle-einladung-aus-bruessel-a-321738.html
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  • MedDeeg@web.de
    Super. Man braucht nur die Kommentare hier zu lesen und hat die Erklärung!
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  • R.Silber
    Bitte unterlassen Sie derartige persönliche und gar beleidigende Kommentare gegenüber anderen Usern!
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  • flyarcus@gmx.de
    Nachzuvollziehen ist es eh nicht, warum die hier lebenden, gemeldeten, aus der Türkei geflohenen Menschen eigentlich überhaupt noch für die Türkei wählen dürfen..... das sollte rechtlich abgeschafft werden..... entweder das eine, oder das andere! Wir schaffen das, oder wieviel mehr: wirr schaffen uns ab?! Auf die Zukunft kann man sich nicht mehr freuen, das ist das traurigste daran
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  • tommy33
    In der Überschrift des Artikels steht doch auch die Antwort: Nur weil jemand einen deutschen Pass hat ist er noch lange kein Deutscher und auch nicht unbedingt ein Demokrat! Da wären wir wieder bei Herkunft, Erziehung, Glaube und Überzeugung.
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  • Funkenstern
    Stellt euch doch einfach mal vor, was passieren würde, wenn die alle heim ins Reich wallen. Unsere Kultur bricht zusammen, die Versorgung, die Intelligenz, die Luft, die Autoindustrie, alles würde leiden. Und doch würden wir es überstehen. Ob der Erdo die hier auch alle haben wollte, wage ich zu bezweifeln. Zum wählen waren sie gut genug, im Land selbst würden sie Unruhe stiften, denn hier geniessen sie alle Freiheiten, die sie dort nicht mehr hätten. Die sind alle schon zu europäisiert.
    Trotzdem brauch ich keinen einen davon.
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  • saufhauerl
    Lieber User, bitte unterlassen Sie es gegenüber anderen Usern derart persönlich und bewertend zu kommentieren. SIe unterstellen dem User ticktricktrack, dass er chauvinistisch und fauvistisch sei. Ihren Kommentar können wir deshalb nicht veröffentlichen. Freundliche Grüße, Denise Schiwon
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  • rebnik
    "heim ins Reich": Warum wird im Forum Nazisprache geduldet?

    Gerade befasst sich ein großes Interview bei SPIEGELonline (bento) damit, wie durch Pegida, AfD usw. Nazi-Sprache gesellschaftsfähig wird.

    Interview mit Anatol Stefanowitsch, Sprachwissenschaftler, FU Berlin:

    "Wir haben uns als Gesellschaft nie ausreichend damit auseinandergesetzt, wie tiefgreifend der Nationalsozialismus unsere Sprache verändert hat. Dadurch sind diese Sprachmuster nie richtig verschwunden. Mit dem Erstarken der rechtsradikalen Bewegung – erst Pegida, jetzt AfD – ist dieser Sprachgebrauch wieder in die Öffentlichkeit gekommen. Und wir haben uns daran gewöhnt."

    "So etwas passiert nie plötzlich, sondern immer zuerst sprachlich. Es wird immer zuerst geguckt, wie weit kann ich sprachlich gehen, was akzeptiert die Gesellschaft. Und wenn sich das in den Köpfen etabliert hat, dann kann man zur Tat schreiten. Das ist das Gefährliche an dieser Art der Sprache."
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  • Erding
    Tja, der Schein trügt.
    ich kann nicht verhehlen zu schreiben, dass der verteilte Schein "Deutscher Pass" trüge. Oder genauer er trügt nicht, denn man die Aussteller warfen diesen "Schein" den Einreisenden geradezu hinterher. Warum gibt es sogar und noch die doppelte Staatsbürgerschaft? Und jetzt wo sich wiederum zeigt, dass die eigene Geburtsnation den Menschen näher ist, ist das Geschrei groß. Nationalmannchaft ist doch nur eine Firma, ein weltweites Geschäft. Und die Aufregung ist dann immer gleich so groß, wenn Z. B. Zwei Schweizernationalmannschaftsspieler ihren "Adlergruß" zeigen. Moralapostel, die sich "darüber", ich betone "darüber" aufregen. Wo bleibt die Aufregung in wirklich wichtigen Angelegenheiten der jeweiligen Nationen? Aber die hat man ja abgeschafft. Jetzt sind alle Europäer und alle Weltbürger. Und die Religionen sind jetzt neutral. Mit einer Ausnahme: Der Islam ist Deutschland. Also warum jetzt plötzlich diese künstliche Aufregung? Jeder kann wählen, wen er will.
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  • branca
    Doppelpost
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  • NeMeinung
    Herr Wiedemann, sie sprechen mir und vielen Anderen aus der Seele. Sehr guter Samstagsbrief.
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  • branca
    Doppelpost
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  • branca
    Branca: Respekt dass sie offen aussprechen .habe vor der WM gesagt mit vaterlansverräter geht es in einer Mannschaft nicht gut.da muss man erst gar nicht nach anderen Gründen suchen.mein.mann wollte 3tage mit mir nach südtirol u.in der Hoffnung wir sehen die nationalmannschaft. Ich habe ihm gesagt ich möchte nicht hin fahren ich komme mir wie ein veräter vor.wenn solche erdogan Freunde dabei sind.bin 68 Jahre alt alter fussball kenner.diese Zeilen. Hatte ich am Mittwoch nachdem aus an die mainpost als Kommentar gesendet.wurde angeblich als doppelpost abgetan. Begrüssen ihre ehrliche Haltung Herr wiedemann Respekt .
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  • branca
    freue mich über deine Mitteilung
    bin gleicher meinung
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