Sehr geehrter Herr Juncker,
es gibt da ein eindrucksvolles Bild von Ihnen: Sie sitzen an einem überdimensionalen runden Tisch. Alleine, in sich versunken. Der Blick leer, ins Nichts gerichtet. Sie sind deshalb so einsam, weil sich alle anderen hinter verschlossen Türen gerade mit Klüngelei und einem un- und denkwürdigen Posten-Geschachere beschäftigen. Das war Anfang dieser Woche in der Phase, als alles hätte passieren können. Zu diesem Zeitpunkt waren die ursprünglich zur Wahl gestandenen Kandidaten für Ihr Amt längst fortgeweht. Damit stand fest: Ihr Nachfolger würde Kai heißen und aus der berühmten Kiste kommen – was ja dann auch tatsächlich passierte.
Was, lieber Herr Juncker, ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf? Haben Sie realisiert, wie erbärmlich das Schauspiel war? Wie viele Wähler das angewidert haben muss? Wie viel Vertrauen da mal wieder kaputtgegangen ist? Da stehen Fix und Foxi zur Wahl - und Fridolin siegt. Wenn das keine Klatsche für die Wähler ist. Eine Vorgehensweise, die keiner verstand. Europa klappte vor Staunen das Kinn nach unten. Der aufgerissene Mund wollte gar nicht wieder zugehen, weil dann wie erwartet die Kiste aufging – und Ursula von der Leyenals ihre mögliche Nachfolgerin heraushüpfte. Ausgerechnet!
Lust am Untergang
Verschlug Ihnen der ganze Zinnober auch die Sprache? Ahnten Sie da, dass Sie in Ihrer Amtszeit dringend etwas dafür hätten tun müssen, dass es zu einem solchen Hickhack gar nicht erst kommen kann? Warum fehlen nach fünf Juncker-Jahren Regeln, damit das, was zur Wahl steht, anschließend nicht nonchalant im Klo runtergespült werden kann? Warum ist im 21. Jahrhundert noch immer ein Auswahlverfahren möglich, das als Überschrift "Lust am Untergang" – Untertitel: "Hauen und Stechen" – trägt? Warum haben Sie die Hinterzimmer, in denen jetzt das demokratieschädlichen Ränke- und Kraftspiel stattfand, nicht längst zugemauert? Fehlte Ihnen die Kelle? Oder der Wille? Vielleicht, Herr Juncker, gefallen Sie sich ja sogar in der Rolle als Glücksspiel-Chef in der Poker-Hauptstadt Brüssel?
Aufwachen mit Ursula
Und was war das für eine Poker-Partie: Da geht man mit Manfred Weber ins Bett, um mit Ursula von der Leyen aufzuwachen. Zugegeben, das Bild ist nicht ganz stimmig. Es zeigt aber das Drama in seiner Gänze. Was besonders traurig ist: Nicht die EU-Gegner sorgen für Europa-Verdruss – sondern die EU höchstselbst. Mit einem himmelschreienden Demokratieverständnis. Mit parlamentarischer Demokratie hat das alles so gar nichts zu tun. Wenn Ursula von der Leyen tatsächlich Kommissionschefin werden sollte, wird sie für mich allein schon wegen dieser Vorgeschichte immer eine Präsidentin der traurigen Gestalt bleiben.
Ich würde überhaupt zu gerne wissen, lieber Herr Juncker, was Ihnen spontan durch den Kopf ging, als Sie den Namen ihrer möglichen Nachfolgerin gehört haben? Ich verrate Ihnen mal, wie es bei mir war. Erst Fassungslosigkeit. Dann Entsetzen. Und dann die Frage: Wie kann so etwas passieren? Wie kann jemand, dem als Bundesverteidigungsministerin der Laden – von Beraterverträgen über fehlende Ausrüstung bis hin zum Gorch-Fock-Fiasko – gerade um die Ohren fliegt, der also eigentlich kurz vor der Totalaufgabe und einem Trümmerhaufen steht, wie kann so jemand die Leiter plötzlich hoch fallen? Als Belohnung für schlechte Arbeit in der Rolle als Bundeswehrmängelverwaltungsschauspielerin gibt's ein Amt an Europas Spitze. Da fällt man doch endgültig vom Glauben ab.
Was wurde aus meiner Stimme?
Wegen der Verschwendung von Steuergeldern - und nichts anderes sind die inflationären Beraterverträge - hätte es einen Untersuchungsausschuss geben sollen. Der scheint nun flach zu fallen. Wobei ich nicht weiß, warum? Und, lieber Herr Juncker, wenn Steuergeld-Verschwendung eine Straftat wäre, stünde es ganz schlecht um ihre Nachfolgerin in spe. Die Frage nach Bewährung würde sich – wir reden von einem neunstelligen Bereich – wohl kaum noch stellen.
Ich habe mal für mich überprüft, was ich gewählt habe und was daraus geworden ist. Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Nicht nachvollziehbar. Dieses Nichtwissen, dieses Durcheinander – am Ende ist das alles irgendwie symptomatisch für den ganzen Zustand der EU: Von Vereinigten EU-Staaten ist man weiter weg als vom möglichen Totalschaden. Mag auch vieles gut gemeint sein, so ist es doch oftmals einfach nur schlecht gemacht. Für dieses Machen wäre nicht zuletzt jener Mann zuständig gewesen, der Anfang der Woche so einsam und verlassen an dem viel zu großen Tisch saß.
In diese Richtungen zu ätzen liegt Herr Weichhan aber nicht.......