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Würzburg
Samstagsbrief: Lieber innerer Schweinehund, ich schlage Dir fürs Neue Jahr einen Pakt vor
Immerzu Stress, Zwang zur Selbstoptimierung: Zum Jahreswechsel sollten wir statt Vorsätze zu fassen ein vielbeschumpfenes Fabelwesen neu bewerten, meint unser Autor.
Eigentlich ein putziges Wesen, der (innere) Schweinehund. In Wirklichkeit ist er natürlich eine Allegorie, also die bildliche Darstellung eines Zustands. In diesem Fall der Willensschwäche.
Foto: Getty Images | Eigentlich ein putziges Wesen, der (innere) Schweinehund. In Wirklichkeit ist er natürlich eine Allegorie, also die bildliche Darstellung eines Zustands. In diesem Fall der Willensschwäche.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 15.07.2024 18:30 Uhr

Lieber innerer Schweinehund,

dieser Brief geht zwar an Dich, ich muss Dich aber trotzdem bitten, die kommenden zwei bis drei Stunden, während ich das hier schreibe, mal die Klappe zu halten. Am besten rollst Du Dich irgendwo tief in meinem Inneren zusammen und machst ein wohlverdientes Nickerchen. Du hast dieses Jahr wirklich genug geleistet. So kannst Du den unaufgeräumten Keller auf die Liste Deiner Erfolge setzen, die verstaubte Fitnessmaschine im Treppenhaus. Und die überfällige Steuererklärung sowieso.

Wie das im Neuen Jahr werden soll, darüber müssen wir uns später mal unterhalten. Schließlich bist Du nicht ganz unschuldig daran, dass ich schon seit Langem an Silvester keine guten Vorsätze mehr fasse.

Bringt einfach nichts. Schlimmer noch: Wenn eine der Erledigungen, vor denen ich mich meist mehr als weniger erfolgreich drücke, auch noch auf einer Liste mit guten Vorsätzen stünde, würde ich mich am Ende des Jahres noch schuldiger fühlen.

Vermutlich ist das heute nicht mehr zeitgemäß, aber früher, in meiner Jugend, forderten die Sportlehrer uns ständig auf, Dich zu besiegen. Und noch früher, in dunkleren deutschen Zeiten, wurdest Du gerne als Feindbild herangezogen, wenn es darum ging, soldatische Tugenden einzufordern.

Man kann den inneren Schweinehund googeln, es gibt sogar Schweinehund-Bilder im Netz

Für heutige Ohren klingt es deshalb ziemlich martialisch, wenn man Dich direkt beim Namen nennt. Vielleicht ist deshalb in letzter Zeit eher der trügerisch neutrale Begriff der "Prokrastination" in Mode gekommen, im Volksmund auch als "Aufschieberitis" bekannt. Wie man Dich auch immer nennen will: Fast jeder und jede scheint einen inneren Schweinehund zu haben. Manchmal größer, manchmal kleiner, aber wenn ich's recht überlege, kenne ich niemanden ohne. Du bist wirklich weit verbreitet. Man kann Dich googeln, es gibt sogar Bilder von Dir im Netz. 

Also: Wer bist Du? Wo kommst Du her?

Das Internet weiß viel über Dich, lieber innerer Schweinehund. Als Erstes erfahre ich: Du bist eine Allegorie, also die bildliche Darstellung einer Idee oder eines Zustands. Und zwar für Willensschwäche. Und: Du bist ein sehr, sehr altes Phänomen. Schon vor 2500 Jahren, im antiken Griechenland, warst Du so auffällig unterwegs, lieber innerer Schweinehund, dass sich Geistesgrößen wie Platon, Sokrates und Aristoteles mit Dir beschäftigten. Ob sie das taten, um sich vor dem Kelleraufräumen oder der Steuererklärung zu drücken, ist nicht überliefert. 

Wie auch immer, die alten Philosophen waren sich im Wesentlichen einig: Wer seinem inneren Schweinehund das Feld kampflos überlässt, handelt gegen sein eigenes Glück. Leuchtet ein: Wer sich um sein Zeug nicht kümmert, kriegt irgendwann Ärger. Sie nannten das freilich anders, nämlich "Akrasia". Klingt zwar hübscher als Schweinehund, meint aber ungefähr dasselbe. 

So gesehen ist es ein Segen, dass es Dich als Personifizierung gibt, lieber innerer Schweinehund. Dank Dir muss ich mich nicht für eine verwerfliche Willensschwäche rechtfertigen, sondern kann alles auf Dich schieben, was ich nicht schaffe: Du hast mich davon abgehalten, dieses oder jenes endlich in Angriff zu nehmen. Ich kann nichts dafür.

Wenn der innere Schweinehund zum Work-Life-Balance-Coach wird.
Foto: Getty Images | Wenn der innere Schweinehund zum Work-Life-Balance-Coach wird.

Ich habe sowieso nie verstanden, warum die Begriffe "Schwein" und "Hund" so oft als Schimpfwort herhalten müssen, und in der Kombination sozusagen nochmal extra beleidigend wirken.  Denn eigentlich sind Schweine ja sensible und intelligente Tiere. Und Hunde sind seit vielen tausend Jahren hochgeschätzte Gefährten des Menschen.

Vielleicht braucht es in Zeiten der Selbstoptimierung einen, der für uns auf die Bremse tritt

Die Wortverbindung ist übrigens entstanden, weil es an deutschen Fürstenhöfen seit dem 16. Jahrhundert Hunde gab, die zur Wildschweinjagd eingesetzt wurden. Sauhunde oder eben Schweinehunde. Die mussten ziemlich mutig sein, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Und Willensschwäche wäre dabei bestimmt nicht förderlich gewesen.

Vielleicht sollten wir Dich, lieber innerer Schweinehund, also neu bewerten. Vordergründig hältst Du uns zwar davon ab, vermeintlich wichtige Aufgaben zu erledigen, damit tust Du uns gelegentlich aber auch einen Gefallen. Ja, mein Keller ist immer noch unaufgeräumt, dafür habe ich im vergangenen Jahr ein gutes Buch mehr gelesen oder eine spannende Serie mehr geschaut.

Und vielleicht braucht es in Zeiten von Tempo, Stress, Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung gerade Dich als Instanz, die uns hilft, mal auf die Bremse zu treten. Der innere Schweinehund als Work-Life-Balance-Coach sozusagen.

Pakt für 2024: Keine Vorsätze, kein Kampf

Lass uns also für 2024 einen Pakt schließen: Ich nehme offiziell Abstand davon, Dich zu besiegen, innerer Schweinehund. Und Du lässt mich im nächsten Jahr ab und zu auf den Crosstrainer steigen, damit ich nicht völlig aus dem Leim gehe. Das mit dem Keller, das ist so dringend auch wieder nicht.

Ganz ohne Vorsätze,

Mathias Wiedemann, Redakteur

Persönliche Post: der Samstagsbrief

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