
Sehr geehrte Barbara Millicent Roberts, liebe Barbie,
ich muss zugeben, ich habe mich mindestens 40 Jahre lang in Dir getäuscht. Aber seit ich den neuen Film mit Dir gesehen habe, bin ich ins Grübeln geraten. Ich habe Dich unterschätzt.
Ich hielt Dich lange für die plastikgewordene Verkörperung amerikanischer Verlogenheit: eine Puppe, die Generationen von Mädchen mit unrealistischen Körperidealen und unstillbarem Konsumhunger infizierte, dabei aber angeblich eine emanzipatorische Botschaft hatte.
Diese lautete: Weil Barbie alles sein kann, können Frauen alles sein. Es gab Dich anfangs zwar nur als hübsches Blondchen oder Brünette im Badeanzug, aber bald warf Dein Hersteller Mattel jede Menge anderer Versionen auf den Markt: Figuren aller Haut- und Haarfarben und Staturen. Barbies als Ärztinnen, Astronautinnen oder Naturforscherinnen, eine Barbie mit Down-Syndrom, eine Barbie im Rollstuhl und Barbies, die historischen Persönlichkeiten nachempfunden sind wie die Forscherin Jane Goodall, die Malerin Frida Kahlo oder die schwarze Bürger- und Frauenrechtlerin Ida B. Wells.

Viel aufgeklärter geht's ja wohl nicht, könnte man meinen. Und doch: Wirklich überzeugt hat mich diese zur Schau gestellte Diversität nie. Schließlich ging und geht es Mattel vor allem darum, Puppen plus Kleider plus Zubehör zu verkaufen, und da wird dann eben angeboten, was ankommt. Im Film, den Mattel mitfinanziert und dessen Drehbuch Mattel abgesegnet hat, wird das übrigens mehrfach sehr deutlich thematisiert. Aber dazu später.
Du, liebe Barbie, galtest in bestimmten Kreisen als Inbegriff von Patriarchat und Kapitalismus
Ich weiß noch, dass meine Schwester sich unbedingt eine Barbie-Puppe wünschte, meine Mutter aber dagegen war. Es waren die 1970er Jahre, selbst im tiefsten Südbayern entstanden erste Frauengruppen, die die überkommene Rollenverteilung zwischen Mann und Frau infragestellten. Du, liebe Barbie, galtest in diesen Kreisen als Inbegriff von Patriarchat und Kapitalismus.
Meine Schwester ertrotzte sich damals ihre Barbie, der Kontakt mit Dir scheint ihr aber weder genützt, noch geschadet zu haben: Sie ist heute ebenso erfolgreich in ihrem verantwortungsvollen Beruf wie bei der Erziehung zweier wunderbarer Kinder.
Es gibt schon etwa 20 Barbie-Filme, alles Animationsfilme. Als ich vor ein paar Jahren hörte, es solle schon wieder einer gedreht werden, aber diesmal mit richtigen Darstellenden, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche Handlung er haben sollte. Barbie zieht sich 30 Mal am Tag um? Barbie fährt in ihrem rosa Cabrio auf und ab? Barbie und Ken schlürfen Cocktails?
Nun ist der Film also raus und hat die Welt einigermaßen überrascht. Und das nicht nur, weil er in kürzester Zeit alle Kassenrekorde gebrochen hat. Oder weil darin verblüffend drastisch das ach so fröhliche Barbie-Universum als knallhart kommerzielle Kulissenwelt entlarvt, parodiert und ad absurdum geführt wird. Allein das wäre schon bemerkenswert: Die amerikanische Unterhaltungsindustrie zieht sich selbst gnadenlos durch den Kakao und verdient auch damit wieder Milliarden.

Aber ich finde einen anderen Aspekt interessanter: Das Werk ist eine clevere Abwandlung von Platons Höhlengleichnis. Die Figuren in Barbieland - das ganze Sortiment an Barbies und Kens - bekommen eine Scheinwelt mit Scheinbeziehungen und Scheinemotionen vorgegaukelt. Die Illusion fängt an zu bröckeln, als echte Emotionen aus der realen Welt in diese Scheinwelt hereinbrechen.
Regisseurin und Drehbuch-Koautorin Greta Gerwig hat sich dabei die Mühe gemacht, sich in Dich hineinzuversetzen, liebe Barbie. Sie hat tatsächlich versucht herauszufinden, wie Du Dich fühlst, was Du denkst, wovon Du träumst, was Dich bedrückt, wovor Du Angst hast.
Das echte Leben durchbricht die Pink-Plastik-Party-Dauerschleife
Im Film durchbricht also das echte Leben mit seinen biologischen wie emotionalen Unappetitlichkeiten die Pink-Plastik-Party-Dauerschleife. Mit Hunger, Schmerz, Neid und nicht zuletzt Schwerkraft. Und dann ist da noch dieser maximal verstörende Gedanke: Was ist, wenn wir alle sterblich sind?
Oha, plötzlich sind alle vermeintlichen Gewissheiten hinfällig, schon gibt es mehr Handlung als genug. Die Kens rebellieren gegen das Barbie-Matriarchat. Eine Horde verblödeter Mattel-Topmanager versucht, Dich zurück in den Karton zu kriegen, als wollten sie alle Übel zurück in die Büchse der Pandora stopfen.
Im Film tritt auch Ruth Handler auf, die Frau, die Dich geschaffen und 1959 auf den Markt gebracht hat - inspiriert übrigens von der deutschen Puppe "Lilli", die in Oberfranken hergestellt wurde. Ruth Handler bringt es auf den Punkt: "Das Leben ist ungemütlich, deshalb haben sich die Menschen Dinge ausgedacht wie das Patriarchat und die Barbie."
Liebe Barbie, die starke Botschaft hätte ich Dir nicht zugetraut
Was passiert aber, wenn Barbie diese Rolle verweigert und sich der Ungemütlichkeit des Lebens stellt? Im Film tust Du genau das, liebe Barbie. Du verweigerst den Karton und damit die Wiederherstellung der Scheinwelt. Das finde ich bei allem kalkulierten Kommerz eine starke Botschaft, die ich Dir nicht zugetraut hätte. Viel stärker als die wohlfeile Versicherung Deiner Hersteller, jede Frau könne Präsidentin, Meisterpilotin oder Nobelpreisträgerin werden, nur weil es eine entsprechende Plastikpuppe zu kaufen gibt.
Mit menschlichen Grüßen,
Mathias Wiedemann, Redakteur
Der Versuch eines grün angehauchten anbiedern?
Keine Frau braucht das!
Der Film überrascht in vieler Hinsicht - und er bringt Diskussionen hervor ausserhalb der Barbie-Stereotypen- Diskussionen. An manchen Stellen hätte ich mir noch mehr Mut gewünscht, Themen deutlicher anzusprechen. Aber er bietet tatsächlich mehr als ich von einem in pink getauchten Sommerfilm erwartet hätte. Und die Diskussion über die enthalteten Themen- und die Rolle, die Möglichkeiten und die Kraft der "Barbie" im normalen Leben - lohnt sich.
Ich konnte in meinem Leben noch nie etwas mit dem Phänomen "Barbie"anfangen. Jetzt weiß ich Bescheid. Ich glaube aber nicht, dass ich etwas verpasst habe.