Sehr geehrte Frau Friedländer,
nachträglich herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 102. Geburtstag in dieser Woche. Schön, Sie am Donnerstag während der Gedenkstunde an die Pogromnacht 1938 auf der Besuchertribüne des Bundestags so rüstig zu sehen.
Dass Ihnen als Holocaust-Überlebende vermutlich nicht nach Geburtstag feiern war, dürfte zum einen an den Nachrichten und Bildern vom Terror gegen Jüdinnen und Juden in Israel liegen. Zum anderen an den Nachrichten und Bildern von antisemitischen Übergriffen in bislang so nicht gekannter Brutalität und Zahl mitten in Deutschland.
Judenhass erinnert an die 1930er Jahre
Auf den Straßen wird der Mord an Jüdinnen und Juden in Israel offen bejubelt. Längst nicht nur in Berlin, was schlimm genug wäre, auch bei uns in Bayern werden Scheiben von jüdischen Geschäften eingeschlagen, werden Häuser, in denen jüdische Menschen leben, mit antisemitischer Symbolik und üblen Parolen beschmiert.
Junge Jüdinnen und Juden trauen sich nicht mehr in die Schule, jüdische Studierende nicht mehr allein auf die Uni-Toilette. Und mitten in unseren Städten werden Menschen beschimpft und bespuckt, die bei Starbucks Kaffee trinken - weil das Unternehmen einen jüdischen Besitzer hat. Auch wenn man hierzulande mit Nazi-Vergleichen vorsichtig sein sollte: Dies erinnert dann doch heftig an die 1930er Jahre, an die Aufrufe "Kauft nicht bei Juden".
Mich überkommt angesichts solcher Nachrichten Scham. Gleichzeitig mag ich mir gar nicht ausmalen, wie sehr diese Bilder Sie, liebe Frau Friedländer, aufwühlen, ja aufwühlen müssen.
Als junge Frau in Berlin haben Sie den menschenverachtenden Judenhass am eigenen Leib gespürt. Und schließlich erleben müssen, wie Ihr Bruder im Januar 1943 von der Gestapo abgeholt wurde – und Ihre Mutter entschied, ihn zu begleiten. "Versuche, Dein Leben zu machen", das war die Botschaft, die sie Ihnen zusammen mit ihrer Bernsteinkette zurückließ. Sie haben sich nie mehr wiedergesehen. Ihre ganze Familie wurde im Holocaust ermordet.
Sie selbst konnten in Berlin dank der Hilfe mutiger Menschen zunächst untertauchen, bis man Sie schließlich im April 1944 doch an die Gestapo verraten und nach Theresienstadt deportiert hat. Gemeinsam mit Ihrem späteren Mann überlebten Sie das Konzentrationslager, 1946 wanderten Sie nach New York aus.
Nach über 50 Jahren kehrte Margot Friedländer in die Heimat zurück
Über fünfzig Jahre später, nach dem Tod Ihres Mannes 1997, begannen Sie, liebe Frau Friedländer, Ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Für einen Dokumentarfilm kehrten Sie schließlich wieder nach Berlin zurück, mehrere Besuche folgten. Seit 2010 leben Sie wieder in Ihrer Heimatstadt. Mittlerweile sind Sie nicht nur mehrfach für Ihre Erinnerungsarbeit von der Bundesrepublik ausgezeichnet worden, sondern auch wieder deutsche Staatsbürgerin.
Regelmäßig besuchen Sie Schulen, um jungen Leuten aus Ihrem Leben zu erzählen. Die Authentizität, mit der Sie den Horror der Nazi-Zeit lebendig machen, die kann kein Geschichtsbuch, kein Film und kein Gedenkstätten-Besuch ersetzen. Ihre Botschaft dabei ist ein Appell an die Menschlichkeit: "Ihr braucht andere Menschen nicht zu lieben. Aber Respekt vor anderen ist unverzichtbar."
Was aber läuft schief in diesem Land, dass Menschen jüdischer Herkunft nicht mehr sicher sein können, dass sich der Hass dieser Tage so breit machen kann? Ist die Versicherung "Nie wieder", die an Gedenktagen wie dem 9. November so routiniert wiederholt wird, nur eine Phrase?
Unser Rechtsstaat ist gefordert, es gibt keine Entschuldigung
Ich mag es nicht glauben. Aber wir müssen der bitteren Wahrheit ins Gesicht sehen: Das bisherige bildungspolitische Engagement reicht nicht aus, um Menschen, egal welcher Herkunft, ihren Antisemitismus, ihren Rassismus, ihre Menschenfeindlichkeit auszutreiben. Neben Lehrerinnen, Lehrern und unseren Bildungseinrichtungen ist der Rechtsstaat gefordert, auch schon verbalen Angriffen gegen die Menschlichkeit mit aller Härte zu begegnen. Da darf es keine Entschuldigung geben, da gilt kein "Ja, aber…"
Und es braucht uns alle. Es bedarf keiner großen Zivilcourage, einzuschreiten, wenn dumme Witze die Runde machen, wann immer Antisemitismus relativiert wird. Lasst uns den Jüdinnen und Juden gemeinsam zeigen, sie gehören zu uns.
Ihr Leben, Ihr Lebenswerk, liebe Margot Friedländer, das kürzlich erst in einem sehenswerten Dokudrama vom ZDF verfilmt wurde, sollte uns Beispiel sein. Es zeigt, wohin der Hass führt, aber auch, wie er motivieren kann, für Versöhnung, für ein menschliches Miteinander zu streiten.
Machen Sie weiter so und bleiben Sie vor allem gesund.
Herzliche Grüße aus Würzburg
Michael Czygan, Redakteur