Schon in den vergangenen Jahren hatte Josef Schuster am selben Ort und bei derselben Veranstaltung immer wieder vor dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland gewarnt. Rund einen Monat nach dem Beginn der Terroranschläge der Hamas auf Israel wurde der Präsident des Zentralrats der Juden noch deutlicher: „Das Versprechen von 'Nie wieder!' wandelt sich vor unseren Augen in ein 'Schon wieder'“, sagte Schuster am Mittwochabend vor gut 300 Menschen beim Gedenken an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren.
Die gemeinsame stille Gedenkfeier der israelitischen Kultusgemeinde, der Stadt Würzburg und der Regierung von Unterfranken findet immer am Vorabend des 9. November am Standort der ehemaligen Hauptsynagoge in der Domerschulstraße statt. Dieses Mal war der Zuspruch nicht nur besonders groß, es gab – anders als aus den Vorjahren gewohnt – auch kräftigen Applaus für die Redner.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 griffen die Nationalsozialisten in ganz Deutschland jüdische Geschäfte und Einrichtungen an, verwüsteten Synagogen und jüdische Friedhöfe. Historiker gehen von mehr als 1300 Todesopfern aus, vier davon in Würzburg.
„Spätestens seit diesem Tag war es niemandem mehr möglich zu behaupten, er oder sie hätte nicht gewusst, mit welcher Grausamkeit die Nationalsozialisten ihre mörderische Ideologie durchsetzen wollten“, betonte Josef Schuster: „Es war der Tag, an dem sich sozusagen die Tore von Auschwitz öffneten.“ Ähnliche Geschehnisse seien seit dem Angriff der Hamas auf Israel wieder Realität für Jüdinnen und Juden in Deutschland.
Schuster verurteilte auch den bei pro-palästinensischen Demonstrationen öffentlich zur Schau gestellten Judenhass: „Es erfüllt mich mit großer Wut, dass es Elemente in unserer Gesellschaft gibt, die die Ermordung von 1300 Jüdinnen und Juden auf deutschen Straßen feiern. Wer Terror bejubelt, hat aus der Geschichte nichts gelernt und hier in unserer Gesellschaft ehrlicherweise nichts verloren.“
Der Kampf gegen den neuen Antisemitismus sei auch deshalb so wichtig, „weil Antisemiten, egal ob religiös oder politisch motiviert, egal ob aus dem rechten oder dem linken Spektrum, es nie beim Antisemitismus bewenden lassen“, so der Zentralrats-Präsident weiter: „Es war nie wichtiger, überzeugt für unsere Demokratie und unsere Freiheit einzustehen. Sie war schon lange nicht mehr einer solch großen Bedrohung ausgesetzt.“
Auch Oberbürgermeister Christian Schuchardt brachte seine Fassungslosigkeit über täglich neue Meldungen antisemitischer Taten zum Ausdruck: „Während wir hier zusammenkommen, fürchten Jüdinnen und Juden um ihre Sicherheit. Das kann und das darf nicht sein“, betonte der OB.
Der Massenmord an sechs Millionen Juden sei unentschuldbar, aufgrund seiner Geschichte trage Deutschland eine immerwährende Verantwortung, die an Gedenktagen wie dem 9. November besonders schmerzlich bewusst werde. „Dass jüdisches Leben heute wieder ein fester und wertvoller Bestandteil unserer Stadt ist, erfüllt mich mit großer Demut und tiefer Dankbarkeit“, sagte Schuchardt.
Regierungs-Vizepräsident Joachim Lange erinnerte daran, dass jüdisches Leben seit 1700 Jahren fester Bestandteil Deutschlands ist: „Es ist deshalb hierher gehörend und nicht fremd.“ Der Antisemitismus im Land sei nicht neu und auch nicht alleine auf die aktuellen Geschehnisse im Nahen Osten und die Zuwanderung zurückzuführen. „Er ist nach 1945 nicht verschwunden. Er war immer da, mitten in unserer Gesellschaft“, sagte Lange.