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Würzburg
Samstagsbrief an eine Landfrau: Sie sind meine Orientierungshilfe, Frau Wild!
Das alte Leben kriegen wir nicht zurück: Corona macht unsere Welt kleiner. Redakteurin Gisela Rauch orientiert sich an Kreisbäuerin Martina Wild, wie man damit umgeht. 
Martina Wild aus Unterpleichfeld steht seit acht Jahren als  Kreisbäuerin an der Spitze der Landfrauen im Landkreis Würzburg. Sie vertritt die Frauen, die auf einem Bauernhof leben und in der Landwirtschaft arbeiten. 
Foto: Wilma Wolf | Martina Wild aus Unterpleichfeld steht seit acht Jahren als  Kreisbäuerin an der Spitze der Landfrauen im Landkreis Würzburg.
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:25 Uhr

Liebe Frau Wild, mein erster Versuch, einen Apfelkuchen zu backen, ist misslungen. Eigentlich sollte ja ein Mürbeteigboden, der 50 Minuten backt, tragfähig sein, aber bei mir ist er es nicht – er zerkrümelt. Mein zweiter Apfelkuchen, mit Rührkuchenteig, gelingt aber. Meine Kinder zeigten sich erfreut über die Kuchen und irritiert über ihre Mutter. "Seit wann backst du?". "Seit Corona."

Backen statt Balearen-Trips: Die Corona-Krise nötigt uns einen neuen Umgang mit unserer Zeit auf. 
Foto: Udo Bernhart, dpa | Backen statt Balearen-Trips: Die Corona-Krise nötigt uns einen neuen Umgang mit unserer Zeit auf. 

Natürlich fragen Sie sich jetzt, sehr geehrte Frau Wild, was Sie als Kreisbäuerin und als erfahrene Landfrau mit meinen Backversuchen zu tun haben. Es ist so: Wenn Sie erlauben, nehme ich Sie als Orientierungshilfe in diesem Corona-Herbst. Natürlich weiß ich nicht, ob dieser Herbst wirklich der übelste Herbst meines Lebens wird und ob der Winter wirklich so lang, so zäh, so dunkel wird, wie ich mir das gerade vorstelle. Aber es fühlt sich im Moment so an. Die Wärme geht und damit die Möglichkeit, die Sonne auf der Haut zu spüren. Das Licht geht und damit die Möglichkeit, lang draußen unterwegs zu sein.

Die Welt auf ein paar Quadratmetern: Kinder, Haus, Homeoffice.

Vor mir liegen Monate, die ich notgedrungen in einem Maß zu Hause verbringen muss wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Normalerweise plane ich um diese Zeit die Teilnahme an Tanzevents in anderen Städten; aber die Tanzszene ist aufgrund von Corona weitgehend lahmgelegt. Normalerweise fahre ich im Herbst für ein paar Tage zu einer Freundin nach Berlin; aber Berlin kann man mit Blick auf dortige Corona-Zahlen gleich abschreiben. Besuch einladen? Verantwortungslos! Auslandsreisen planen? Lieber nicht! Der Spielraum, der mir in den nächsten Monaten bleibt, beschränkt sich im Wesentlichen auf ein paar Dutzend Quadratmeter: Kinder, Haus, Homeoffice. Die Welt ist verdammt klein geworden.

Was ich früher mit "kleiner Welt" assoziiert habe, war unter anderem das Leben von Landfrauen; ich hoffe, sehr geehrte Frau Wild, dass Sie mir diese Assoziation nicht langfristig übel nehmen. "Klein" erschien mir bestimmt nicht das Landfrauen-Leben selbst, aber doch der aufgrund von vielen täglich wiederkehrenden Pflichten in Haus und Hof zur Verfügung stehende Zeit- und Bewegungsrahmen.

Man tut gut daran, mit dem zu arbeiten, was man gerade hat

Ich erinnere mich an Meldungen von Landfrauen, die sich meist auf saisonale Events bezogen: Ausflüge in die nahe Umgebung, Herbstdeko basteln und gemeinsame Weihnachtsbäckerei, sowas halt. Mittlerweile haben die Landfrauen natürlich Websites und kommunizieren unter anderem auch Anlagetipps. Aber eben auch unter dem Titel "Kirchweih in Zeiten von Corona" das Rezept für "Kirchweihnudeln", für die man Mehl, Eier, Salz, Sahne, Hefe, Butter und Rosinen braucht. "Einfach selber machen!", steht da.

Und natürlich ist das sinnvoll: Wenn man stark gebunden ist an den Ort, an dem man gerade ist, tägliche Pflichten den Radius einengen und kleine Fluchten – auf die Balearen oder nach Berlin – wegfallen, tut man gut daran, mit dem zu arbeiten, was man gerade hat. Das ist nicht mal ansatzweise ironisch gemeint, sondern aufrichtig bewundernd, wenn ich sage: Da kann ich von Ihnen lernen.

Vor dem Corona-Winter: Die Bewegungsräume werden enger.
Foto: Sabrina Mehler | Vor dem Corona-Winter: Die Bewegungsräume werden enger.

Bloß habe ich mir immer mit diesen typischen Frauen-Tätigkeitszuschreibungen schwer getan. Nicht, dass ich Backen an sich unsinnig finde. Aber wenn es früher vor einem Elterntreffen hieß: "Mütter, backt doch mal eben zum Termin einen Kuchen!",  war sicher ich diejenige, die ohne Kuchen kam. Aus Protest; weil die Aufforderung nur an Frauen ging!

Festzementierte Geschlechterrollen finde ich falsch. Und als im Frühjahr, kurz nach dem Corona-Lockdown, Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, beklagte, dass wir in der Krise "einen Rückfall auf die Rollenteilung wie zu Zeiten unserer Großeltern" erleben, habe ich zugestimmt: Nicht einzusehen, dass vor allem die Mütter zu Hause bleiben, wenn die Kids wegen des Lockdowns nicht in die Schule dürfen. Dass Arbeitslast vor allem den Müttern draufgeschlagen wird, wenn Schulen, Kitas, Schulmensen, Vereinstraining und Co schließen oder nur eingeschränkt funktionieren. Dass also die Mütter sich wieder in Retro-Rollenbildern einrichten, die stark hausfraulich geprägt, ja vielleicht sogar einen Touch 50er Jahre haben.

Wir kriegen unser altes Leben nicht zurück.

Anders als im Frühjahr akzeptiere ich aber gerade, dass uns die Corona-Krise auf uns selbst und unsere kleine Welt zurückwirft. Dass wir unser altes Leben nicht zurückkriegen. Dass wir besser durch die nächsten Monate kommen werden, wenn wir der Retraditionalisierung zum Trotz das machen, was nahe liegt – statt zu jammern. Also versuche ich jetzt mal, Kirchweihnudeln zu backen. Danke an die Landfrauen, Frau Wild!

Mit freundlichen Grüßen,

Gisela Rauch, Redakteurin

Einer bekommt Post: Der Samstagsbrief

Jedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur.
Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir vom Adressaten Post zurück. Die Antwort und den Gegenbrief, den Briefwechsel also, finden Sie dann auf jeden Fall bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet die Antwort desjenigen, der den "Samstagsbrief" zugestellt bekommt, ja auch Anlass für weitere Berichterstattung – an jedem Tag der Woche.
Quelle: MP
 
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Kommentare
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  • T. R.
    In der Schule würde man sagen:Thema verfehlt 6!
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    • Antworten
  • T. H.
    Ich habe diesen Brief ein paar Mal gelesen, und wenn ich Frau Wild wäre, wäre ich nicht begeistert. "Und natürlich ist das sinnvoll: Wenn man stark gebunden ist an den Ort, an dem man gerade ist, tägliche Pflichten den Radius einengen und kleine Fluchten – auf die Balearen oder nach Berlin – wegfallen, tut man gut daran, mit dem zu arbeiten, was man gerade hat." - Eine Bäuerin oder Landwirtin arrangiert sich also mit dem, was sie hat, weil es nicht anders geht? Könnte es nicht auch sein, dass eine Bäuerin sich bewusst für diesen Beruf entschieden hat, weil sie es liebt, in und mit der Natur zu arbeiten? Landwirtschaft ist mehr als "Kirchweihnudeln backen". Das ist ein anerkannter Ausbildungberuf. Übrigens kann man Landwirtschaft auch studieren.
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