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Würzburg
Samstagsbrief an eine Kinderbuchfigur: Lieber kleiner Drache Kokosnuss, wir Erwachsenen sollten viel mehr vorlesen
Obwohl Vorlesen die Entwicklung von Kindern fördert, wird laut der Bildungsstudie der Stiftung Lesen in jeder dritten Familie nie vorgelesen. Ein Jammer, findet unsere Autorin.
Kinder, denen vorgelesen wurde, fällt es leichter, lesen zu lernen. Dass sich das Vorlesen positiv auf die emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern sowie auf die Eltern-Kind-Bindung auswirkt, ist gut erforscht.
Foto: Thomas Obermeier | Kinder, denen vorgelesen wurde, fällt es leichter, lesen zu lernen. Dass sich das Vorlesen positiv auf die emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern sowie auf die Eltern-Kind-Bindung auswirkt, ist gut erforscht.
Autorenköpfe Volos       -  Nargis Silva
Nargis Silva
 |  aktualisiert: 15.07.2024 17:42 Uhr

Lieber Drache Kokosnuss,

ich hoffe, du schnaubst gerade ein paar Rauchringe und genießt die Zeit auf der Dracheninsel. Mit Dir als Hauptfigur der gleichnamigen Buchreihe von Ingo Siegner und deinen Freunden Oskar und Matilda geht unsere Familie schon seit langem auf Abenteuerreisen. Heute möchte ich Dir ein paar Zeilen über unser allabendliches Vorlesevergnügen schreiben. Du weißt schon, diese gemütlichen und zauberhaften Momente, in denen deine Drachengeschichten unser Wohnzimmer in eine kleine Drachenhöhle verwandeln. 

Dir ist ja sicherlich bekannt, dass Vorlesen für kleine Menschen wichtig ist. Studien wie der Vorlesemonitor der Stiftung Lesen besagen, dass es die kindliche Vorstellungskraft anregt und die geistige Entwicklung von Kindern fördert. Das heißt, jede deiner Geschichten ist nicht nur ein Fantasiefeuerwerk, sondern auch ein kognitiver Booster für die Kleinen.

Kinder, die regelmäßig neuen Wörtern lauschen, bauen einen reichen Wortschatz auf

Vorlesen mag kluge Köpfe formen. Doch ich behaupte, mehr noch: Kein IQ-Test auf diesem Planeten ist so raffiniert wie die Frage eines Vierjährigen. "Warum darf Kokosnuss nicht auf die südliche Südseeinsel, bevor er fliegen lernt, Mama? Es gibt doch Flugzeuge!" Eine Antwort zu erfinden, die nicht nur plausibel klingt, sondern auch die kindliche Faszination für noch-nicht-flugfähige-Drachen bewahrt, ist eine Kunst für sich. 

Während Forscherinnen und Forscher sagen, dass sich Vorlesen auf die kleinen grauen Zellen unserer Kinder enorm gut auswirkt, frage ich mich manchmal, ob es auch eine Studie darüber gibt, wie viele Tassen Kaffee eine Mutter am Abend braucht, um den ersten Auftritt von Stachelschwein Matilda zum 25. Mal so enthusiastisch hinzulegen wie am Anfang. 

Vorlesen üben klappt am besten mit Lieblingsbüchern. Die kennt man meist schon gut und weiß, welche Stellen wichtig sind. 
Foto: Paul Zinken, dpa | Vorlesen üben klappt am besten mit Lieblingsbüchern. Die kennt man meist schon gut und weiß, welche Stellen wichtig sind. 

Dennoch ist es die Mühe wert. Denn gemeinsam mit Kindern in Fantasiewelten abzutauchen macht nicht nur Spaß, sondern befeuert auch ihre Sprachentwicklung. Kinder, die regelmäßig neuen Wörtern lauschen, bauen einen reichen Wortschatz auf, der so beeindruckend sein kann, dass vermutlich selbst Dein Erzfeind, der wortgewandte Zauberer Ziegenbart, grün wird vor Neid. 

Kinder, denen vorgelesen wird, entwickeln laut der aktuellen Studie eine tiefere emotionale Intelligenz. Das bedeutet, dass sie zu echten Profis im Mitfühlen werden, dadurch dass sie sich in die Helden und Schurken der Geschichten hineinversetzen. Gemeinsam mit kleinen Stachelschweinen und Drachen mitzufiebern, die gegen Piraten und Zauberer kämpfen, stärkt nebenbei den Familienzusammenhalt und hilft, auch über schwierige Themen zu sprechen.

In vielen Familien wird wenig bis gar nicht vorgelesen

Umso bedauerlicher, dass in knapp 40 Prozent der Familien mit Kindern zwischen einem und acht Jahren der Studie zufolge wenig bis gar nicht vorgelesen wird. Diese Kinder lernen sehr viel schwerer lesen, gab unser Bundesbildungsministerium neulich bekannt. Das wirke sich negativ auf ihre Chancen im späteren Leben aus. Vielleicht haben manche Eltern vergessen, dass Bücher keine verstaubten Relikte aus vergangenen Zeiten sind, sondern ein wundervolles Mittel, um die Lebenswelten von Eltern und Kindern zu verbinden. 

Für mich als Vorleserin gibt es dabei echte Herausforderungen zu bewältigen. Denn die Konkurrenz mit den flimmernden Bildschirmen, die um die Aufmerksamkeit buhlen, ist nicht ohne. Schließlich sind Medien heutzutage Dauergast im Kinderzimmer, sei es das Tablet, das Handy oder der gute alte Fernseher. Da muss ich wirklich auf Zack sein, um die kleinen Zuhörer zu fesseln.

Doch meistens klappt es und sobald ich anfange vorzulesen, verwandeln sich meine zwei Zuhörer auch dank Dir in kleine Entdecker und lauschen ganz aufmerksam jeder Zeile, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich alles vorlese und nichts auslasse. Zwischendurch werde ich von aufgeregten Kommentaren wie "Das hätte ich anders gemacht" oder "Ich glaube, Kokosnuss sollte mehr Eis essen" unterbrochen. Hin und wieder, wenn das Leseabenteuer zu Ende geht, muss ich sie überzeugen, dass "nur noch 5 Minuten" leider nicht endlos wiederholt werden kann. 

Lieber Drache Kokosnuss, danke Dir für die besonderen Momente, die du den Kleinen schenkst. Mögen dir und deinen Kinderbuchfreunden die Geschichten niemals ausgehen und viele Erwachsene die Liebe zum Vorlesen entdecken.

Mit feurigwarmen Grüßen,

Nargis Silva 

Persönliche Post: der Samstagsbrief

Jedes Wochenende lesen Sie unseren "Samstagsbrief". Was das ist? Ein offener Brief, den eine Redakteurin oder ein Redakteur unserer Zeitung an eine reale Person schreibt – und tatsächlich auch verschickt. An eine Person des öffentlichen Lebens, die zuletzt Schlagzeilen machte. An jemanden, dem wir etwas zu sagen haben. An einen Menschen aus der Region, der bewegt hat und bewegt. Vielleicht auch mal an eine Institution oder an ein Unternehmen. Oder ausnahmsweise an eine fiktive Figur. Persönlich, direkt und pointiert formuliert soll der "Samstagsbrief" sein. Mal emotional, mal scharfzüngig, mal mit deutlichen Worten, mal launig – und immer mit Freude an der Kontroverse. Der "Samstagsbrief" ist unsere Einladung zur Debatte und zum Austausch. Im Idealfall bekommen wir von der Adressatin oder dem Adressaten Post zurück. Die Antwort finden Sie dann bei allen "Samstagsbriefen" hier. Und vielleicht bietet sie auch Anlass für weitere Berichterstattung.
 
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Kommentare
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  • Barbara Fersch
    Die "Kokosnussserie" ist traumhaft schön, wir lesen unserem Enkel am Telefon bis zu 90 Minuten vor (er wohnt leider 500 km entfernt).
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  • Ralf Eberhardt
    Sehr geehrte Frau Silva, vielen Dank für diesen so wichtigen Samstagsbrief. Er zeigt, dass es mit Ihnen noch Menschen mit gesundem Menschenverstand gibt, denn die Tatsache, dass Lesen bei Kindern positive Entwicklungen auslöst, ist ebenso klar wie in Vergessenheit geraten. Und natürlich ist die Zuwendung der Erwachsenen - können ja wie bei uns auch Oma und Opa sein - zusätzlich positiv. Sie liegen damit auch auf der Linie von Anna Stolz als Kultusministerin in Bayern, die gottseidank auch diese Grundkompetenzen Lesen und Schreiben als Priorität bei den Kindern sieht und nicht die Tuba der Digitalisierung bläst, sondern eher die Flöte. Danke und ein schönes Wochenende!
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  • Ilse Ludwig
    👍
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