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WÜRZBURG
Vorlesen: So früh wie möglich anfangen
Vorlesen: So früh wie möglich anfangen       -  Einige der Lesemäuse des Kindergartens St. Bruno „Klein ganz Groß“ in Würzburg mit ihren Lieblingsbüchern und ganz persönlichen Empfehlungen für tollen Vorlesestoff.
Foto: Melanie Jäger | Einige der Lesemäuse des Kindergartens St. Bruno „Klein ganz Groß“ in Würzburg mit ihren Lieblingsbüchern und ganz persönlichen Empfehlungen für tollen Vorlesestoff.
Claudia Kneifel
 |  aktualisiert: 27.04.2023 05:39 Uhr

Kinder lieben es, wenn sie von Mama, Papa oder den Großeltern vorgelesen bekommen oder zusammen Bilderbücher anschauen. Denn das bedeutet auch gemeinsame Zeit und körperliche Nähe. Doch nicht in jeder Familie steht Vorlesen auf dem Programm. Seit 2004 gibt es den Bundesweiten Vorlesetag mit vielen Aktionen, der genau dazu motivieren soll. Warum Lesen so wichtig ist – und man schon Babys Bücher in die Hand geben sollte – erklärt der Würzburger Psychologieprofessor Tobias Richter.

Frage: Warum ist Vorlesen für Kinder so wichtig?

Tobias Richter: Vorlesen im Elternhaus hat viele positive Effekte auf die sprachliche Entwicklung. Kinder, denen vorgelesen wird, sprechen früher, sie haben einen größeren Wortschatz und können sich besser ausdrücken. In der Grundschule haben sie einen besseren Start, denn Kinder, denen viel vorgelesen wurde, lernen selbst schneller lesen.

Laut einer aktuellen Studie beginnen die meisten Eltern zu spät mit dem Vorlesen. Ab wann ist das richtige Alter?

Richter: Grundsätzlich sollten Eltern so früh wie möglich mit dem Vorlesen beginnen. Für den Spracherwerb ist das Vorlesen auch als sprachliche Interaktion, also über das Gelesene sprechen, sehr wichtig. Das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern schon ab dem ersten Lebensjahr, sozusagen die erste Stufe des Vorlesens, kann den Spracherwerb effektiv unterstützen.

Bei 28 Prozent der Kinder zwischen drei Monaten und drei Jahren wird fast nie vorgelesen. Welche Auswirkungen kann das auf die Kinder haben?

Richter: Kinder, denen nicht vorgelesen wird, nimmt man gewisse Chancen was die Sprachentwicklung angeht. Diese Kinder entwickeln insgesamt ein schlechtes Sprachverständnis, können sich selbst weniger gut ausdrücken. Auch der Schriftspracherwerb und also das Lesen- und Schreibenlernen wird behindert, wenn Kindern nicht oder kaum vorgelesen wird.

Welche Bücher sind überhaupt für ein erstes Vorlesen geeignet?

Richter: Das Vorlesen kann mit Bilderwörterbüchern beginnen, in denen Gegenstände wie zum Beispiel ein Ball, ein Apfel oder ein Auto, oder einfache Situationen bildlich dargestellt sind. Über diese Dinge kann man gemeinsam mit dem Kind sprechen. Grundsätzlich würde ich Eltern raten auszuprobieren, welche Bücher ihr Kind interessant findet und immer wieder etwas Neues versuchen. Später kann man zu kurzen Geschichten gereimten Gedichten oder einfachen Sachbüchern übergehen.

Warum ist es so wichtig, dass auch Väter vorlesen?

Richter: Lesen und die Beschäftigung mit Sprache ist eher mit weiblichen Stereotypen belegt, Rechnen und Technik mit männlichen. Es gibt dafür keine psychologische Rechtfertigung. Es kommt auf Rollenvorbilder an, um diese Geschlechterstereotypen aufzubrechen.

Was raten Sie den Eltern?

Richter: Es ist wichtig, dass die Eltern möglichst abwechselnd und regelmäßig vorzulesen. Am besten jeden Tag zur gleichen Uhrzeit, zum Beispiel vor dem Schlafengehen.

Welche Bedeutung haben heute Apps?

Richter: Wenn sie wissenschaftlich fundiert sind, können Lese-Apps das Lesenlernen durch gezielte Übungen unterstützen. Für leseschwache Kinder bieten sie durchaus eine interessante Möglichkeit. Das Vorlesen durch die Eltern können Apps aber nicht ersetzen. Hier ist die dialogische Komponente wichtig, dass also Eltern über das Gelesene mit ihren Kindern ins Gespräch kommen und sie durch Fragen zum aktiven Mitdenken und Mitmachen ermuntern.

Brauchen wir in Zeiten von künstlicher Intelligenz und Spracherkennung noch Lesekompetenz?

Richter: Der überwiegende Teil der Informationen, denen die Menschen im Internet begegnen, sind schriftliche Informationen. Auch in den sozialen Medien und über Messengerdienste wird in erster Linie schriftlich kommuniziert. In der heutigen Wissens- und Informationsgesellschaft lesen und schreiben die Menschen also nicht weniger als früher, sie nutzen nur andere Medien. Dabei gewinnen neuen Aspekte der Lesekompetenz an Bedeutung, zum Beispiel die Fähigkeit, die Qualität und Glaubwürdigkeit von Informationen einzuschätzen: Stichwort Fake News.

Dennoch hat jeder sechste Jugendliche in Deutschland mit dem Lesen Probleme, sieben Millionen Erwachsene sind Analphabeten.

Richter: Die Prävention von Leseschwächen und die Förderung von Kindern erfordern Anstrengungen von Bildungsinstitutionen und Eltern. Grundsätzlich sind Präventions- und Fördermaßnahmen umso effektiver, je früher sie ansetzen. Auch deshalb spielt das Vorlesen in der Familie eine wichtige Rolle. Eltern, bei deren Kindern Verdacht auf eine gravierende Leseschwäche besteht, sollten sich an einen Lerntherapeuten wenden.

Aktionen rund ums Lesen

Der bundesweite Vorlesetag ist eine gemeinsame Initiative von der Wochenzeitung „Die Zeit“, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung. Dieser Aktionstag für das Vorlesen findet seit 2004 jedes Jahr am dritten Freitag im November statt, diesmal ist es der 17. November. Der Vorlesetag setzt ein öffentlichkeitswirksames Zeichen für die Bedeutung des Vorlesens. Ziel ist es, Begeisterung zu wecken und Kinder bereits früh mit dem geschriebenen und erzählten Wort in Kontakt zu bringen. Das Konzept ist einfach: Jeder, der Spaß am Vorlesen hat, liest an diesem Tag anderen vor – zum Beispiel in Schulen, Kindergärten, Bibliotheken oder Buchhandlungen.

Auch an ungewöhnlichen Vorleseorten finden Aktionen statt: im Schwimmbad, in einem Tierpark, in Museen oder als Guerilla-Variante in der Fußgängerzone. 135 000 Vorleserinnen und Vorleser waren 2016 unterwegs.

Informationen zu den bundesweiten Aktionen (unter anderem auch in Unterfranken) gibt es unter www.vorlesetag.de MEL

Vorlesen: So früh wie möglich anfangen       -  Tobias Richter ist Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie IV der Universität Würzburg. Er beschäftigt sich mit Sprachentwicklung.
Foto: Darius Endlich | Tobias Richter ist Inhaber des Lehrstuhls für Psychologie IV der Universität Würzburg. Er beschäftigt sich mit Sprachentwicklung.
 
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