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Bayreuth/Würzburg
Der neue "Parsifal" mit Augmented Reality bei den Bayreuther Festspielen: Jubel für die Musik, Buhs für die Regie
Nachhilfe in leichter Bildsprache: Der digital ergänzte "Parsifal" findet beim Publikum keinen Anklang. Für die Fans klassischer Theaterkunst ist das eine gute Nachricht.
Beeindruckende Optik, einfache Aussage: Parsifal und Kundry (Andreas Schager und Elina Garanca, im Teich) am Ende eines enttäuschenden 'Parsifal'.
Foto: Enrico Nawrath | Beeindruckende Optik, einfache Aussage: Parsifal und Kundry (Andreas Schager und Elina Garanca, im Teich) am Ende eines enttäuschenden "Parsifal".
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 15.07.2024 15:02 Uhr
  • Was ist das für ein Stück? Richard Wagners (1813-1883) letzte Oper "Parsifal" befasst sich mit Schuld und Erlösung. Nur der arglose, mitfühlende Titelheld kann den Gralskönig Amfortas von seinen Qualen erlösen und damit, grob vereinfacht, die Menschheit von der Sünde.
  • Was ist Augmented Reality (AR)? Ergänzte Realität meint eine zusätzliche digitale Ebene zur realen. Bei den Bayreuther Festspielen kann ein Teil des Publikums "Parsifal" durch eine AR-Brille verfolgen, über die zusätzliche Bilder zum Bühnengeschehen eingespielt werden.
  • Wie ist das umgesetzt? Wer sich Bilder erwartet hatte, wie man sie aus aktuellen Videospielen kennt, der wurde enttäuscht. Und wer sich eine zusätzlich Deutungsebene versprochen hatte, auch. Technisch wie künstlerisch ist noch jede Menge Luft nach oben.

Entwarnung: Die virtuelle Realität wird nicht die klassische Opernkunst ablösen. Zumindest vorerst nicht. Und wohl kaum in Bayreuth. Der amerikanische Regisseur Jay Scheib hat Richard Wagners Bühnenweihfestspiel "Parsifal" für die Bayreuther Festspiele um eine zusätzliche, virtuelle Ebene ergänzt. Augmented Reality (AR) also, nur dass hier kaum von Ergänzung die Rede sein kann. Eher von Überlagerung.

330 der knapp 2000 Zuschauerinnen und Zuschauer pro Vorstellung kommen in den Genuss einer AR-Brille, durch die sie sehen können, was sich Scheib und sein Team am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ausgedacht haben. Und das ist viel. Rein mengenmäßig. Ständig steigen Lichter auf, taumeln Blätter, gaukeln Schmetterlinge. Permanent wachsen Bäume, blühen und verwelken Blumen. Gerne auch so, dass das analoge Bühnengeschehen verdeckt wird.

Und wenn es mal nicht wuselt oder rieselt, fliegen den Brillenträgern die Symbole nur so um die Ohren: Blutlachen in Schwerelosigkeit (für Amfortas' Wunde), grinsende Totenköpfe (Titurels Gebrechlichkeit) und Mülltüten, ja ganze Schwerlaster, wenn es um die Ausbeutung der Erde geht. Für die Traditionalisten gibt es ironischerweise zwei echte Leckerli: Der Speer, den Klingsor auf Parsifal schleudert, bleibt vorschriftsmäßig in der Luft stehen, und zum Schluss erscheint sogar die Taube der Erlösung - beides Elemente, die in keiner modernen Inszenierung mehr vorkommen.

Die Sünde hier ist nicht Unkeuschheit, sondern schamlose Habgier

Das alles wirkt naiv bis simpel - in  Ausführung wie Botschaft. Nicht wie eine zusätzliche Deutungsebene, sondern wie Nachhilfe in leichter Bildsprache. Die Stimmen aus dem Publikum sind entsprechend deutlich: "Das hat für mich keinen echten Mehrwert. Man weiß ja, wie teuer computergenerierte Welten sind, zu mehr hat es offensichtlich nicht gereicht", sagt etwa Evelyn Meining, Intendantin des Würzburger Mozartfests.

Motive aus der Augmented Reality des 'Parsifal', die über spezielle AR-Brillen zu sehen sind.
Foto: Joshua Higgason | Motive aus der Augmented Reality des "Parsifal", die über spezielle AR-Brillen zu sehen sind.

Das nichtdigitale Geschehen (Bühne Mimi Lien, Kostüme Meentje Nielsen) beginnt wie eine statische Hommage an die puristischen Inszenierungen von Wieland Wagner, nur ohne deren Ausstrahlung, und steigert sich dann zu einer durchaus bildmächtigen Anklage. Der dritte Aufzug spielt neben einem verrottenden Tagebaufahrzeug (Stichwort: seltene Erden) am Ufer eines Giftsees. Die Sünde hier ist nicht Unkeuschheit, sondern schamlose Habgier, der Gral ein blauer Kristall, den Parsifal schließlich zerschmettert. Nicht Erlösung, sondern Entlassung in die Selbstverantwortung ist das Fazit.

Thomas Kestler, Vorsitzender des Würzburger Wagnerverbands, hat die Premiere ohne AR-Brille erlebt. Und ist auch vom analogen Geschehen nicht überzeugt: "Das ist für Bayreuth zu wenig. Eine Inszenierung ohne Ecken und Kanten, ohne Aussage. Ich habe immer wieder gedacht: Leute, wir sind doch schon viel weiter mit den Inszenierungen."

Die Szenen mit Parsifal (Andreas Schager) und Kundry (Elina Garanca) müssen sich gegen allerhand optische Albernheiten behaupten.
Foto: Enrico Nawrath | Die Szenen mit Parsifal (Andreas Schager) und Kundry (Elina Garanca) müssen sich gegen allerhand optische Albernheiten behaupten.

Es ist ein "Parsifal" ohne Geheimnis, ohne Magie. Immerhin: Nach schleppendem Anfang finden Dirigent Pablo Heras-Casado und das Orchester zu natürlich fließenden Tempi und verlassen im zweiten Aufzug auch angemessen drastisch gelegentlich den "Parsifal"-Wohlklang.

Die sinnvollere Investition als AR-Brillen wären endlich Übertitel für das Festspielhaus

Das Ereignis aber sind - neben dem grandiosen Chor - die Solisten. Elīna Garanča ist eine unendlich differenzierte Kundry mit bannendem Piano und warmem Forte, Andreas Schager ein gewohnt souveräner Titelheld in Höchstform. Die starken gemeinsamen Szenen der beiden müssen sich allerdings gegen allerhand optische Albernheiten behaupten. Georg Zeppenfelds Gurnemanz bekommt von der Regie wenig Input, so dass sein klarer Bass optimal zur Geltung kommt. Jordan Shanahan gibt einen dämonischen Klingsor, Derek Welton einen autoritären Amfortas und Tobias Kehrer einen grausam-egoistischen Titurel.

Zum Schluss Jubel für die Musik, wütende Buhs für das Regieteam. Buhs, die nicht nur von den 330 Brillenträgerinnen und Brillenträgern stammen können. Die sinnvollere Investition als die 330 zugehörigen digitalen Stationen unter den Sitzen (die wohl auch kaum ohne seltene Erden auskommen) wären endlich Übertitel für das Festspielhaus. Dann würde auch augenfällig, wo so manche Regie Wagners Intentionen ignoriert.

 
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