Anderthalb Jahre musste David Catalunya warten, bis er im Juli endlich nach Israel einreisen durfte. Noch kurz vor dem Flug wusste er nicht, ob es klappen würde – Corona sei Dank. Als der Musikwissenschaftler nach endlosen Antragsverfahren und Befragungen, nach Bluttest und Quarantäne endlich im Terra Sancta Museum in der Jerusalemer Altstadt ankam, konnte er sein Glück kaum fassen. Er würde als erster einen Schatz untersuchen dürfen, der 700 Jahre in der Erde und weitere 100 Jahre im Museumsdepot geschlummert hatte: die älteste christliche Orgel der Welt. "Er war unglaublich schwer, dorthin zu kommen", erzählt Catalunya, "aber als ich da war, fühlte ich mich wie im Paradies."
Es geht um 222 Orgelpfeifen, die 1906 im Kreuzgang der Geburtskirche in Bethlehem gefunden und dann nach Jerusalem gebracht wurden. Sie waren offenbar im späten 12. Jahrhundert, zusammen mit 13 Glocken, einigen liturgischen Gegenständen und einem Bischofsstab, vergraben worden, um nicht dem heranrückenden Heer des Sultans Saladin in die Hände zu fallen. So jedenfalls die Theorie – Aufzeichnungen über die Fundumstände sind bislang keine aufgetaucht.
Gesichert ist, dass Saladin im Jahr 1187 Jerusalem eroberte und damit der christlichen Herrschaft im Heiligen Land – vorerst – ein Ende setzte. Der Schatz von Bethlehem schlummerte erstmal weiter. Zunächst in der Erde und dann, fein säuberlich in Papier eingeschlagen, im Depot des Terra Sancta Museums Jerusalem. Bis ihn ein höchst beeindruckter Wissenschaftler aus Würzburg im Juli 2021 wieder ans Licht holte.
Ein Artikel aus den 1970er Jahren brachte David Catalunya auf die Spur der schlummernden Orgel
David Catalunya war in einer Fachzeitschrift auf einen Artikel aus den 1970er Jahren gestoßen, in dem die Orgel erwähnt war. Offensichtlich hatte sich in der Sache seither nichts mehr getan. Also fragte Catalunya bei den Franziskanern nach, die das Jerusalemer Museum betreiben, und es stellte sich heraus, dass sie just jemanden suchten, der den Fund wissenschaftlich aufarbeiten konnte. "Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort", sagt der Musikwissenschaftler.
David Catalunya, 40, stammt aus Valencia in Spanien. Er wurde an der Universität Würzburg promoviert und forschte dort zehn Jahre, bevor er für drei Jahre nach Oxford ging. Nun, zurück in Würzburg, stellt der Experte für mittelalterliche Tasteninstrumente als Projektleiter der Universität Würzburg ein internationales Expertenteam zusammen, das den vergessenen Sensationsfund fünf Jahre lang untersuchen soll, der eine entscheidende Lücke in der westlichen Kulturgeschichte schließen dürfte. Sein Besuch in Jerusalem war sozusagen eine erste, vorbereitende Kontaktaufnahme mit dem Thema.
Die Menschen kamen nur noch in die Kirche, um die unerhörte Neuheit Orgel zu erleben
Für christliche Gläubige gehört die Orgel seit Jahrhunderten untrennbar zur Kirche. Sie ist, wie kein anderes Instrument, geeignet, die Botschaft des Glaubens machtvoll zu verstärken. Das war nicht immer so. "Im ersten Jahrtausend nach Christi Geburt spielte die Orgel in Liturgie und Ritual keine Rolle", sagt Catalunya. Das Grundprinzip der Orgel – also Luft, die durch Pfeifen geschickt wird –war zwar seit der Antike bekannt, das belegen Darstellungen und archäologische Funde. Aber die Orgel als Instrument war, wie so vieles nach Ende des römischen Reiches, im Okzident praktisch in Vergessenheit geraten.
Das änderte sich erst ab dem 10. Jahrhundert. "Wir wissen aus vielen schriftlichen Quellen, dass die Orgel damals Einzug in den Kirchen hielt", sagt David Catalunya. "Die Autoren beschreiben, wie ungeheuer laut die neuen Instrumente waren." In einem altfranzösischen Gedicht aus dem 12. Jahrhundert heißt es sogar, dass die Menschen nur wegen der Orgel zu Weihnachten in die Kirche kamen. "Das war wie eine Zirkussensation. All das wissen wir. Aber bislang hatten wir keinen physischen Beweis dafür. Die ältesten erhaltenen Orgelpfeifen im christlichen Kontext stammen aus den 15. Jahrhundert."
Neben dem Forschungsprojekt der Universität Würzburg, das in Kooperation mit dem Terra Sancta Museum stattfinden wird, gibt es übrigens eine weitere Verbindung nach Mainfranken: Um das Jahr 1172 bereiste der Kleriker Johannes von Würzburg als Pilger das Heilige Land. Er hat Beschreibungen der Kirchen hinterlassen, die er dort besuchte. Auch der Geburtskirche mit ihren gerade erst angebrachten Mosaiken. Er dürfte die Orgel gesehen haben.
Ob er sie auch gehört hat, ist schwer zu sagen: "Die Orgeln wurden damals nur zu den wichtigsten Hochfesten gespielt", sagt David Catalunya. Was vielleicht auch am Aufwand lag, den es bedeutete, ein solches Instrument in Gang zu bringen. Die Luft für die Pfeifen wurde mit riesigen Blasebälgen erzeugt, die von Menschen bedient wurden, bis zu zwölf pro Orgel.
Vieles deutet darauf hin, dass die Orgel eine der ersten ihrer Art ist
Die vielfach bestaunte Lautstärke entstand dadurch, dass jedem Ton mehrere Pfeifen zugeordnet waren, die gleichzeitig erklangen. Einige davon waren auf genau dieselbe Tonhöhe gestimmt, weitere eine Oktave höher, dazu welche, die fünf Töne – also ein Quinte – höher gestimmt waren als der eigentliche Ton. Das gab zusätzliche Wucht.
Die Pfeifen des Bethlehemer Fundes sind außergewöhnlich gut erhalten. Erste Versuche haben ergeben, dass sie zwar nicht mehr klingen, wohl aber ein Geräusch erzeugen können, "das sehr nah an einem Ton ist", wie Catalunya sagt. Es gebe Formeln, nach denen man die Tonhöhe einer Orgelpfeife berechnen kann, ohne sie in Gang zu setzen. Catalunya kam so zu dem Schluss, dass die Orgel einen Tonumfang von zweieinhalb Oktaven hatte, also 20 Töne. Jeder Ton wurde von jeweils 18 Pfeifen erzeugt, dem eigentlichen Ton und der Oktave darüber. Die Bethlehemer Orgel hatte keine Quinten – einer der Gründe, warum David Catalunya sie für ein frühes Instrument hält, das vermutlich von französischen Kreuzfahrern ins Heilige Land gebracht wurde.
Die Orgel steht an einem entscheidenden Wendepunkt der westlichen christlichen Kultur
Für die frühe Entstehung spricht auch, dass die Namen der Töne, die auf jeder Pfeife stehen – also C, D, E und so weiter – in einer "vorgothischen Schriftart" geschrieben sind. Und: Die Pfeifen haben alle den gleichen Durchmesser, ihre Tonhöhe unterscheidet sich allein über ihre Länge. In späteren Jahrhunderten kam man dann dahinter, dass es klanglich effektiver ist, wenn tiefe Pfeifen lang und dick sind und hohe Pfeifen kurz und dünn.
"Damit steht die Orgel aus Bethlehem an einem entscheidenden Wendepunkt der westlichen christlichen Kultur", sagt David Catalunya. Sie sei möglicherweise eines der ersten Instrumente ihrer Art, entstanden in einer Zeit, als sich Liturgie und Ritual in den Kirchen grundlegend veränderten. "Wir haben eine tausendjährige Orgeltradition. Dieses Instrument zeigt uns, wie alles begann. Damit ist es für die Kirchengeschichte, aber auch die Musik- und die Kunstgeschichte von unschätzbarem Wert."
Wie die Orgel tatsächlich klang, kann sich heute noch niemand vorstellen
Eine Darstellung aus Citeaux, damals eines der bedeutendsten Klöster Europas, zeigt eine solche Orgel und einen Mann, der sie bedient. Sie hat noch keine Tasten, sondern pro Ton eine Holzlatte, die sogenannte Schleife, die gezogen wurde, um die Windzufuhr zu den Pfeifen freizugeben. Unterhalb erkennt man ein System aus Rohren und Bälgen. Das Bild aus dem Jahr 1109 stellt zwar eindeutig ein Instrument dar, wie Catalunya und sein Team es erforschen werden, es lässt allerdings viele Fragen offen.
"Dank des Fundes aus Bethlehem werden wir viel besser verstehen, wie eine solche Orgel tatsächlich aufgebaut war, wie sie funktionierte und vor allem, wie sie klang", sagt David Catalunya. "Diesen Kang kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Niemand hat bisher ein solches Instrument gehört."
Fernziel des Projekts ist ein originalgetreuer, funktionsfähiger Nachbau der Orgel
Das allerdings wird erst möglich werden, wenn das Fernziel des Projekts erreicht ist: ein genauer Nachbau der Orgel. Die Informationen dazu werden die jahrelangen Untersuchungen mit modernsten technischen Mitteln liefern. Wie genau ist sind die Kupfer- beziehungsweise Bronzelegierungen zusammengesetzt? Mit welcher Technik und mit welchen Werkzeugen wurden die Pfeifen bearbeitet?
"Diese Orgel kann unzählige Geschichten erzählen. Über die Menschen, die sie bauten, die Menschen, die sie ins Heilige Land brachten, die Menschen, die sie spielten, und die Menschen, die sie versteckten", sagt David Catalunya. "Man braucht nur jemanden, der diese Geschichten lesen kann."