Irgendjemand hat den Knopf gedrückt. Den Knopf, der Wind in die 16-Fuß-Pfeife drückt. Aus dem fünf Meter hohen Metallrohr dringt ein Ton, so tief, dass die Luft bebt. Die Schwingungen sind noch im Nebenzimmer des Orgelbaumuseums Ostheim spürbar. Körperlich.
Das Museum in dem Rhönstädtchen, das durch seine Kirchenburg bekannt ist, bietet solch sinnliche Erfahrungen. Es bietet aber auch einen intellektuellen Zugang zur Welt des Orgelbaus. Wer die 15 Räume des auf das 15. Jahrhundert zurückgehenden Schlösschens durchwandert, in dem das Museum, das heuer 25-jähriges Bestehen feiert, untergebracht ist, begibt sich auch auf eine Zeitreise durch 2300 Jahre Geschichte eines faszinierenden Instruments. Er begreift dessen Besonderheit. Er begreift die Genialität des Konzepts, die selbst noch in den kleinen Instrumenten spürbar ist. Und wundert sich nicht mehr, dass die Unesco Orgelbau und Orgelmusik Ende vorigen Jahres in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen hat.
Der Laie staunt
Moderne Orgeln sind hochkomplexe Instrumente. Vor der Orgel, die Klais in den Großen Saal der Würzburger Hochschule für Musik eingeschmiegt hat, steht der Laie staunend – und kann nicht wirklich begreifen, wie sie funktioniert. Oder die Orgel im Kiliansdom. Da lässt sich die Hauptorgel auf der Empore sogar von dem kleinen Spieltisch im Querschiff ansteuern. Unfassbar. Hier blickt wohl nur noch der Orgelbauer durch. Selbst Organisten wissen wohl oft nicht im Einzelnen, wie der Druck auf die Taste zu dem Ton wird, den sie hören . . . Digitale Technik macht vieles möglich.
Orgelbau ist ein Handwerk. Orgelwerkstätten legen Wert auf Tradition. Doch sie sind über die Jahrhunderte hinweg auch immer mit der jeweils aktuellen Technik mitgegangen, haben getüftelt und experimentiert, um sie für ihr Instrument einzusetzen.
Angefangen hat alles ganz einfach – mit einer Panflöte und einem Schmied. Um 300 vor Christus erfand im ägyptischen Alexandria der griechische Techniker und Mathematiker Ktesebios für seinen Vater, einen Schmied, einen ganz besonderen Blasebalg. Er nutzte, um das Schmiedefeuer mit gleichmäßig starkem Wind glühen zu lassen, den Druck des Wassers in einem speziellen Behältnis. „Er hielt dann wohl mal eine Panflöte in den Luftstrom und merkte, dass sich dadurch Töne entlocken lassen“, erklärt Jörg Schindler-Schwabedissen, der Leiter des Orgelbaumuseums.
Die Pfeifen auf ein Ständersystem zu bauen und Druckluft in sie hineinzuleiten, die durch Schieber gesteuert werden konnte, war dann nur ein kleiner Schritt. Die erste Orgel war geboren. Sie machte ihren Weg in der Antike.
Um das Jahr 807 ließ Karl der Große solch ein Instrument im Aachener Dom aufstellen. Gegen einigen Widerstand etablierte sich die Orgel zur Begleitung der gregorianischen Gesänge.
Schindler-Schwabedisscn zeigt den Nachbau einer Orgel von 1125. Das Instrument ist so simpel aufgebaut, dass sogar der Laie das Prinzip „Orgel“ begreift: Der Spieler zieht Schieber, die den Wind in die jeweilige Pfeife leiten, die dann tönt. „Schnell spielen geht damit natürlich nicht“, so der gelernte Klavierbauer. „Aber zur Begleitung der getragenen Gregorianik passt es schon.“ Die Tonerzeugung in der Pfeife selbst ist auch leicht zu begreifen: „Wie bei einer Blockflöte“, sagt der Museumsleiter. Und so funktionieren Pfeifen noch heute.
Ansonsten wird's immer komplizierter. In der Gotik wurde die Taste erfunden und damit die Möglichkeit zu flotterem und mehrstimmigem Spiel. Im Barock kamen Register dazu, die mehrere Klangfarben und ihre Kombination ermöglichen. Und zur Romantik hin, wo man großflächige sinfonische Musik liebte, wurden die Instrumente immer größer, die Wege zwischen Taste und Pfeifen-Ventil dadurch immer weiter, die Mechaniken immer aufwendiger.
Irgendwann waren die Möglichkeiten von Hebeln und Seilen erschöpft. Also wurden die Pfeifen pneumatisch angesteuert. „Grundsätzlich wirkungsvoll, aber wartungsaufwendig“, urteilt Schindler-Schwabedissen. Schon die wohnzimmergroßen Ausstellungsstücke mit gefühlt kilometerlangen Leitungen, Röhren und Röhrchen lassen ahnen, was der Experte meint.
Die größte ihrer Art
„Die größte pneumatische Kirchenorgel der Welt im Passauer Dom ist solch eine pneumatische Orgel. Sie hat fast 18 000 Pfeifen“, erklärt Schindler-Schwabedissen. Zum Vergleich: Die Würzburger Domorgel, die größte in Unterfranken, hat rund 6600 Pfeifen. Beim Besucher des Orgelbaumuseums wächst die Hochachtung vor den Orgelbauern aller Epochen (und vor denen, die solch ein Instrument warten) in die Dimension einer 16-Fuß-Pfeife.
Apropos. Beim Hinausgehen schnell mal selbst den Knopf gedrückt. Den, der die 16-Fuß-Pfeife wummern lässt. Es ist einfach ein Erlebnis. Und in den Orgeln dieser Welt wummern noch viel viel größere Pfeifen . . .
Öffnungszeiten des Orgelbaumuseums Ostheim vor der Rhön: Mittwoch bis Samstag: 10–12 und 13–17 Uhr; Sonn- und Feiertage: 13–17 Uhr.
Orgelbau und Weltkulturerbe
In Deutschland ist die Orgelbau-Szene geprägt durch seit dem Barock historisch gewachsene, regional schattierte Orgellandschaften. Die Szene gilt als besonders vielfältig.
Bundesweit existierten laut Homepage der Deutschen Unesco-Kommission 50 000 Orgeln, 400 handwerkliche Orgelbaubetriebe mit etwa 2800 Mitarbeitern und 180 Lehrlingen sowie 3500 hauptamtlichen und Zehntausenden ehrenamtlichen Organisten. Die Pflege der Orgelkultur sei „eine transkulturelle Kulturform mit hoher Kunstfertigkeit, die in Deutschland eine wichtige Basis hat und in äußerst lebendiger Weise weitergegeben wird“, schreibt die Deutsche Unesco-Kommission. Im Dezember 2017 hat die Unesco Orgelbau und Orgelmusik ins immaterielle Kulturerbe der Menschheit aufgenommen hele