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Würzburg
Werner Herzog, der bedingungslos neugierige Soldat des Kinos
Ein milde provokatives Plädoyer für Mut und Offenheit: Der Filmregisseur braucht weder Kamera noch Leinwand, um ein volles Mainfranken Theater in seinen Bann zu ziehen.
Intendant Markus Trabusch (links) im Gespräch mit Werner Herzog auf der Bühne des Mainfranken Theaters
Foto: Johannes Kiefer | Intendant Markus Trabusch (links) im Gespräch mit Werner Herzog auf der Bühne des Mainfranken Theaters
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:19 Uhr

Einen klitzekleinen Moment lang könnte sich die ein oder andere Lehrkraft gefragt haben, ob es vielleicht doch keine so gute Idee war, mit der Filmgruppe der Schule ins Mainfranken Theater zu kommen, um Werner Herzog zu erleben.  Jedenfalls kann es kaum im Sinne verantwortungsvoller erzieherischer Bemühungen sein, wenn ein weltberühmter Regisseur, Idol des Autorenfilms, folgendes verkündet: "Das erste, was euch eure Lehrer beibringen sollten, ist das Knacken von Sicherheitsschlössern. Und das Fälschen von Drehgenehmigungen. Das gehört zur  Grundausstattung dazu."

Werner Herzog, 75, sitzt mit Intendant Markus Trabusch auf der ansonsten leeren Bühne des vollbesetzten Großen Hauses. Im Saal sehr, sehr viele junge Leute, viele von ihnen Nachwuchs-Filmschaffende, etwa vom Beruflichen Schulzentrum Alfons Goppel in Schweinfurt und von den Würzburger Gymnasien Friedrich Koenig, Röntgen und Wirsberg. Und jede Menge Cineasten, die sich zuvor im Foyer ihre Eintrittskarten haben signieren lassen.

Der Regisseur, Schauspieler, Produzent und Schriftsteller ruft an diesem Abend unter dem Motto "Jeder für sich und Gott gegen alle" (so der Titel von Herzogs Kaspar-Hauser-Film von 1974), freilich nicht (nur) zu Kleinkriminalität auf, auch wenn er selbst einst seine erste Kamera geklaut hat. "Das müsst ihr heute nicht mehr, ihr könnt das alles mit dem Handy machen. Oder mit sehr günstigen, sehr leistungsfähigen Geräten."

'Jedes weiße Haar auf meinem Kopf nenne ich Kinski' - Werner Herzog und Klaus Kinski während der Dreharbeiten zu 'Cobra Verde' 1987. 
Foto: dpa | "Jedes weiße Haar auf meinem Kopf nenne ich Kinski" - Werner Herzog und Klaus Kinski während der Dreharbeiten zu "Cobra Verde" 1987. 

Der Mann, der zumindest kurzzeitig Klaus Kinski bändigte ("Jedes weiße Haar auf meinem Kopf nenne ich Kinski"), der ein 350 Tonnen schweres Dampfschiff über einen Berg im Dschungel von Peru schleppen ließ (und dafür tatsächlich die Drehgenehmigung fälschte), der das Neue deutsche Kino mitbegründete, in Hollywood reüssierte und bis heute wie kaum ein anderer für Filmarbeit an der Grenze des Leist- und Zumutbaren steht, wendet sich vor allem gegen die "institutionalisierte Feigheit", wie er es nennt.

Sein Aufhänger dafür ist der witzige Beitrag "Vorsicht Film!" der Filmgruppe des Wirsberg-Gymnasiums, der wie einige weitere auf den Eisernen Vorhang projiziert wird. Darin taucht dreimal der Aspekt Sicherheit auf, durchaus ironisch gebrochen übrigens. Herzog missfällt das trotzdem: "Wir reden hier ja Klartext. So darf man nicht anfangen, die Welt zu erkunden. Ihr müsst euer Leben und eure Visionen mit Mut angehen." Er selbst habe "sehr, sehr riskante Sachen" gemacht: "In über 70 Filmen hat sich nie jemand verletzt. Ich war mal verletzt. Und vielleicht ein, zwei Kameraleute, okay..." Ein bisschen schränkt er also doch ein: "Ihr müsst, wenn ihr Filme macht, an eure Grenzen gehen. Aber mit dem nötigen Bedacht."

Im Grunde ist er gegen jede Form von Institutionalisierung

Im Grunde wendet Herzog sich gegen jede Form von Institutionalisierung. Filmschulen etwa verachtet er. Überhaupt formale Ausbildung. Er kenne keinen großen Regisseur mit Doktortitel, sagt er und formuliert eine zentrale Voraussetzung für gutes Filmemachen:  bedingungslose Neugier. "Es kommt nicht auf die technischen Mittel an, sondern immer nur auf die Substanz und das Wie."

So sehr er akademische Gelehrsamkeit ablehnt, so sehr wurzelt seine Neugier doch in einem überraschend klassischen Bildungskanon. Werner Herzog ruft dringend zum Lesen auf ("Wirklich gute Filme machen nur Leute, die auch lesen"), empfiehlt Kleist und Büchner, zitiert Rilke und André Gide und bedient sich Michelangelos Pietà im Vatikan, um sein Konzept der "ekstatischen Wahrheit" zu illustrieren, das seine Arbeit als Dokumentar- wie als Spielfilmer prägt: "Jesus ist als 33-Jähriger dargestellt, Maria, seine Mutter, als 17-Jährige. Wollte Michelangelo uns betrügen? Nein, er wollte die tiefere Wahrheit des Schmerzensmanns und die tiefere Wahrheit der Jungfrau zeigen."

Es gehe immer darum, eine Welt zu erfahren, die wir so noch nicht gesehen haben, sagt Herzog. "Wenn es nur um Fakten ginge, müsste das Telefonbuch von Manhattan das Buch der Bücher sein. Vier Millionen Einträge und alle korrekt..."

Eine Ansammlung schlüssiger Paradoxa

Werner Herzog ist so etwas wie eine Ansammlung schlüssiger Paradoxa. Seine Widersprüchlichkeiten sind in Wahrheit innere Ergänzungen, aus denen er unbegrenzt Energie zu schöpfen scheint.

Einerseits liebt er die Wertung und hin und wieder auch die Abwertung. Als die Linken der 68er-Generation von ihm nur noch sozialistische Filme forderten, habe er ihnen zugerufen, "ihr Cretins, ihr habt alle Unrecht, meine Filme werden das alles überleben". Andererseits begegnet er den Phänomenen der Welt und der Menschen mit maximaler und gleichsam demütiger Offenheit, sobald sie sein Interesse wecken.

Einerseits spart er nicht mit Superlativen in der Bewertung seiner eigenen Arbeit: "Bis heute habe ich das Gefühl, ich bin der Erfinder des Kinos." Andererseits ordnet er nun schon seit 55 Jahren alle eigenen Befindlichkeiten immer wieder der Sache unter. Der Suche nach dem Seltsamen etwa. Oder der Faszination des Unerklärten: "Die Sachen fallen über mich her. Sie stolpern in mich hinein." Filmemachen hält er für seine Pflicht. "Ich versuche, ein guter Soldat des Kinos zu sein", sagt er, und es klingt fast kein bisschen nach Koketterie.

Werner Herzog ist selbst sein bestes Lehrmaterial

Einerseits hält er sich für den bislang einzig legitimen 3-D-Filmer ("Da gibt es sonst nur Schrott, da fliegen einem Sachen um die Ohren – so what?"), andererseits kann ihn eine Arbeit wie "Schwul" der Filmgruppe des Friedrich-Koenig-Gymnasiums, die ohne jeden Effekt auskommt, tief bewegen. In dem Fünf-Minuten-Film outet sich ein homosexueller Schüler, seine – heterosexuellen – Mitschüler drehen daraufhin in Interviews den Spieß herum und stellen einander Fragen wie "Wann hast du denn entschieden, dass du heterosexuell bist?" Oder gar: "Hast du schonmal daran gedacht, eine Therapie gegen deine Heterosexualität zu machen?" Werner Herzog ist beeindruckt: "Das ist ein richtig intelligenter, richtig mutiger Film. ,Schwul' ist diskret. Im Internet gibt es keine Diskretion mehr." 

Werner Herzog ist selbst sein bestes Lehrmaterial. Die Fragen, die er sich und seinen Schülern immer wieder stellt – wie erzeugt man Spannung, Orientierung, Magie? –, beantwortet er live gleich selbst. Einfach nur auf diesem Stuhl sitzend und erzählend. Keine seiner vielen Pointen kann man in seiner Mimik kommen sehen. Keine seiner ironischen Brechungen unterscheidet sich in Tonfall oder Gestik von einer ganz normalen sachlichen Aussage.

Nach knapp zweieinhalb extrem kurzweiligen Stunden mit druckreifen Weisheiten, milden Provokationen, unverhofften persönlichen Einblicken und immer wieder neuen Zeugnissen von Herzogs Fähigkeit, sich immer wieder selbst neu zu begeistern, steht der Saal und will nicht aufhören zu applaudieren. Werner Herzog steht da und ist sichtlich berührt. "Es war schön mit euch, das sollten wir irgendwann wiederholen, vielleicht. Aber wir haben viele Junge da, die müssen ins Bett und morgen in die Schule." 

 
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