
„Diese Tür will ich nicht zu weit aufreißen“, wehrte Markus Thiel vom „Quartett der Kritiker“ die Genderdiskussion um Schuberts „Winterreise“ ab, die ZuhörerJulian Prégardien angestoßen hatte. Schade. Denn da, kurz vor Schluss, begannen die Rezensenten vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik sehr kontrovers zu diskutieren. Warum gibt es nur wenige Aufnahmen mit Sängerinnen? Warum spielen kaum Pianistinnen den gleich gewichteten Klavierpart? Welchen Anteil haben die Kritiker daran?
Das Quartett um die tempermentvolle Eleonore Büning, den bewanderten Stephan Mösch, die quirlige Susanne Benda und den distinguierten Markus Thiel, lockte zahlreiche Zuhörer ins MozartLabor des Würzburger Mozartfests. Der Burkardussaal im Exerzitienhaus Himmelspforten war sehr gut besetzt. Das Quartett wollte alle 24 Strophen des Gedichtzyklus von Wilhelm Müller, den Franz Schubert 1827 vertonte, mit verschiedenen Aufnahmen anspielen und darauf eingehen. Das gelang nicht. Vielleicht wäre ein Kurztrip durch die "Winterreise" mit höherem Gesprächsanteil noch unterhaltsamer gewesen.
Mehr als 500 Aufnahmen
„Es gibt weit mehr als 500 Aufnahmen“ informierte Büning, gestützt auf eine Erhebung der Musikhochschule Weimar von 1985. Der Zyklus erfordere ein sehr hohes Maß an sängerischem wie pianistischem Können, um „den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden“.
Das Quartett wählte überwiegend Meilenstein-Einspielungen aus. Unumstritten zählen Dietrich Fischer-Dieskaus zahlreiche Aufnahmen dazu. „Ein magischer Beginn“, attestierte Benda der Auftakt-„Gute Nacht“-Strophe von Fischer-Dieskau und Hertha Klust von 1953.
„Zu lohengrinerisch, zu opernhaft, er verschleift die Töne“, bekrittelte Büning die „Wetterfahne“-Strophe von Peter Anders und Michael Raucheisen (1948). Mötsch kam es bei der Aufnahme jedoch auf die fatal klingende C-Dur-Tonart an, die überraschenderweise die zynischen Ausbrüche des Wanderers unterstreiche.
"Das war ein Erdrutsch"
Die „ästhetischste Aufnahme“ ist für Büning und Benda die "Winterreise" von Christian Prégardien und Andreas Staier (1996): „Das war ein Erdrutsch. Prégardien sang als würde er es gerade erfinden.“ Aufhorchen ließ die Aufnahme von 2002 mit Brigitte Fassbaender und Aribert Reimann (2002): „Reimann spielt als sei alles aus dem Lot. Fassbaender singt Collagen, Schnitte. Es wirkt improvisatorisch, obwohl alles durchorganisiert ist“, so Thiel und Mösch.
Einen Abgesang erteilte Mösch den Bearbeitungen von Daniel Behle und dem Oliver Schnyder Trio: „Schrecklich ist das.“ Thiel bekannte, dass ihm vor allem „die Tiefe, das Timbre“ in den Stimmen interessiere. Benda bot zum Abschluss eine neue „Leiermann“-Interpretation: „Er könnte auch für einen Neuanfang, das Ende einer Depression stehen.“
Bünings gelegentliche Flapsigkeit („Weiß nicht genau ob Thomas Bauer Bariton ist“), führte zum belebenden Einbringen des diesjährigen Artiste étoile Julian Prégardien („das müsste man schon wissen“), der vorige Woche mit Kit Armstrong eine bemerkenswerte „Winterreise" präsentierte. Wäre interessant gewesen, diese vom „Quartett der Kritiker“ rezensiert zu lesen.