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Maßbach
Warum "1984" in Maßbach genau das richtige Stück zur richtigen Zeit ist
George Orwells dystopischer Roman "1984" in einer Bühnenfassung von Christian Schidlowsky ist eine Sternstunde in Sachen glaubwürdiges, aktuelles Theater.
Der große Bruder schaut immer zu: Benjamin Jorns (vorne), Marc Marchand.
Foto: Sebastian Worch | Der große Bruder schaut immer zu: Benjamin Jorns (vorne), Marc Marchand.
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 10.05.2023 09:59 Uhr

Das richtige Stück zur richtigen Zeit: Christian Schidlowsky und sein Team haben soeben Orwells dystopisches Meisterwerk "1984" auf die Bühne des Theaters Schloss Maßbach gebracht. Schidlowsky hat den Roman übersetzt und bearbeitet – eine visionäre Entscheidung. Dicht inszeniert und jedes Wort wahr, ganz nah am Leben. Nichts hat den Rezensenten in den vergangenen Jahrzehnten im Theater mehr bewegt.

Was George Orwell vor 74 Jahren, im Jahr 1948, vorhersagte, war noch von den Gräueltaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt: die totale Manipulation durch mediale und soziale Kontrolle. Lächerlich, wenn heute hierzulande Menschen auf die Straße gehen und "Frieden. Freiheit. Keine Diktatur" brüllen. Diktaturen und Autokratien beherrschen inzwischen das Leben von Milliarden Menschen, Tendenz steigend. Hier ist Orwells Vision nicht nur Wirklichkeit, sondern von der Realität längst übertroffen.

Zwei plus zwei ist fünf. Basta.

Winston Smith (Benjamin Jorns) ist Mitarbeiter des Informationsministeriums eines totalitären Staates. Seine Aufgabe ist es, die Geschichte an die Parteidoktrin anzupassen, sie also so zu fälschen, dass sich die Fälschung als Wahrheit festsetzt. Jede Leugnung hat verheerende Folgen für die Leugner. Zwei plus zwei ist also fünf. Basta. Siehe Trumps "alternative Realität", siehe die Falschmeldungen aus den Putinschen Trollfabriken, siehe die chinesischen Jubelproklamationen.

Trügerische Momente der Intimität: Julia (Anna Schindlbeck) und Winston (Benjamin Jorns).
Foto: Sebastian Worch | Trügerische Momente der Intimität: Julia (Anna Schindlbeck) und Winston (Benjamin Jorns).

Winston Smith funktioniert äußerlich, pflegt aber heimlich seine Bedürfnisse nach Individualität, Liebe, Sex und Freiheit, die er in einem Tagebuch dokumentiert. Dass der intime Ort, den ein Antiquar (Yannick Rey) Winston und seiner Freundin Julia (Anna Schindlbeck) zur Verfügung stellt, längst von Big Brother und dem kaltblütig planenden O'Brien (Marc Marchand) überwacht wird, blenden die Liebenden aus.

Schidlowskys genialer Einfall: Er erzählt die Geschichte vom Schluss her, aus der Sicht eines zerstörten Individuums. Bevor seine Existenz ausgelöscht wird, versucht sich der von Folter gezeichnete Winston an die Monate des Jahres 1984 zu erinnern. Wir sehen also Monat für Monat Augenblicke großer Intimität und Zärtlichkeit, genauso wie die Strategien der Macht, jeden Akt von Individualität im Keim zu ersticken.

Robert Pflanz hat dafür einen kalten, klaustrophobischen Raum geschaffen – Gefängniszelle und Fluchtort zugleich. Die Videoeinspielungen von Hannes Maar visualisieren angsterregend Innen- und Außenwelt der Personen und die Allmacht des Apparats. Die Schauspielenden tragen graue oder schwarze Overalls mit QR-Codes auf dem Rücken und gelben Smileys am Kragen (Kostüme: Jutta Reinhard).

Die Darstellenden agieren, als wäre es ein Stück von ihnen

In dieser Ausweglosigkeit  agieren Benjamin Jorns, Anna Schindlbeck, Marc Marchand und Yannick Rey als wär's ein Stück von ihnen. Mit Augenblicken voller Empathie und Leidenschaft, voller Angst und Zweifel, Illusion und Klarsicht, Zynismus und Menschenverachtung. All das eben, was im Hier und Jetzt die hoffenden, trauernden, verängstigten Menschen bewegt, die sich im Einflussbereich eiskalter Machtmenschen und ihrer Apparatschiks bewegen müssen.

Zurück bleibt nichts als ein Tagebuch für künftige Generationen. Doch selbst das wird zu Staub zerfallen unter den Händen jener, die sich gottgleich zur Macht berufen fühlen – das ist die bittere Botschaft der Geschichte. Nur einen Lichtblick mag es geben: Den Blick in die Abgründe des eigenen Ichs, der vor Augen führt, was geschieht, wenn man den Hausdämonen genügend Raum gibt, sich zu verbreiten. Eine Sternstunde in Sachen glaubwürdiges, aktuelles Theater.

Weitere Vorstellungen in der Maßbacher Lauertalhalle und auf Gastspielen bis 23. April. Infos und Karten über Telefon (09735) 235. www.theater-massbach.de

 
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