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WÜRZBURG
Von Schirach: „Es gibt keine Antworten, es gab sie nie“
Ferdinand von Schirach
Foto: Michael Mann | Ferdinand von Schirach
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:35 Uhr

Er geht leicht vorgeneigt und verbeugt sich vielleicht ein ganz klein wenig linkisch. Wie jemand, dessen Hauptanliegen nicht in körperlicher Präsenz besteht. Das Wesentliche findet im Inneren dieses Mannes statt, nicht in der Wucht seines Auftritts. Ferdinand von Schirach ist nicht das, was man gemeinhin als Rampensau bezeichnet. Seiner Wirkung ist er sich allerdings sehr wohl bewusst.

Und wie beim Lesen seiner Texte entsteht bei seinem Auftritt am Montag im gut gefüllten Mainfranken Theater in Würzburg dieser faszinierend zwiespältige Eindruck: Der Saal hängt vom ersten Wort an gespannt an seinen Lippen, und doch kann er nach der Pause einen Satz sagen wie „Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie wiedergekommen sind“, ohne dass es im mindesten nach Koketterie klingt.

Sätze, die die Menschen bereichern in vielleicht sogar verändern

Es gibt Journalistenkollegen, die der Meinung sind, es habe keinen Sinn, über Lesungen zu berichten, also „eine Veranstaltung nachzuerzählen“. Das mag für herkömmliche Lesungen gelten, für diese nicht. Denn Ferdinand von Schirach, ehemals Strafverteidiger, jetzt Bestsellerautor und Dramatiker (sein Stück „Terror“ gilt als das erfolgreichste der Gegenwart, es steht auf dem Spielplan auch des Mainfranken Theaters) macht etwas mit den Menschen. Es bereichert sie, vielleicht verändert es sie sogar.

Diese bescheidene, ruhige Freundlichkeit, die gar nicht erst versucht, über einen messerscharfen, unbestechlichen Verstand, einen Hang zu milder, äußerst treffsicherer Ironie und eine fundamentale Ratlosigkeit hinwegzutäuschen: „Es gibt keine Antworten, es gab sie nie“, sagt er und klingt dabei kein bisschen verloren. Vielleicht ist dies das Geheimnis seiner Anziehungskraft: Er versöhnt die Menschen mit dem Unfertigen, dem Aussichtslosen, mit der Einsamkeit, mit sich selbst. Etwa indem er lustvoll Heraklit zitiert: „Der Kosmos ist ein aufgeschütteter Misthaufen.“

Sokrates, der sich bewusst philosophisch anstatt rechtlich verteidigte und verlor

Kein Wunder, dass er die erste Hälfte des Abends dem Prozess gegen Sokrates widmet. Dem Mann also, der nicht aufhören wollte, Fragen zu stellen, ohne auf Antworten zu hoffen. Der zum Tode verurteilt wurde, nicht weil er gegen die Götter gefrevelt oder die Jugend verdorben hatte, sondern, weil er das Athener System infrage stellte, in dem Beamte per Los bestimmt wurden und die absolute Demokratie es zuließ, dass freie Bürger Despoten wählten.

Er hätte davonkommen können, aber der „hinreißend arrogante“ Sokrates verteidigte sich bewusst nicht rechtlich, sondern philosophisch. Von Schirach: „Und das geht meistens schief.“ Immerhin: Dank seiner Integrität ist Sokrates heute noch relevant. Von Schirach: „Lassen Sie mal am Tag nach einem Sexualmord an einem Kind über die Todesstrafe abstimmen.“

Nach der letzten Begegnung mit dem Jugendfreund begann er zu schreiben

Nach der Pause liest er drei Geschichten aus seinem jüngsten Erzählband „Strafe“, darunter die letzte und persönlichste „Der Freund“. Diesem Jugendfreund, Richard, hatte von Schirach im späteren Leben nicht helfen können, er hatte sich umgebracht. „Einige Monate nach dem Tag in der Normandie [der letzten Begegnung] habe ich mit dem Schreiben begonnen. Es war zu viel geworden“, heißt es im letzten Abschnitt.

Ihm selbst hilft das Schreiben vielleicht nicht („Die Fremdheit bleibt und die Einsamkeit und alles andere auch“), dem Leser aber schon. Er wird immer wieder beschenkt mit Sätzen von tiefer Wahrheit wie diesem: „Alle unsere Erinnerungen sind profan und alle sind heilig.“

 
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