Zitate zu Beginn von Büchern sind manchmal erhellend, manchmal geistreich, oft prätentiös, meistens überflüssig. Doch dieses ist frappierend passend ausgewählt: „Wenn alles still ist, geschieht am meisten.“ Der Satz stammt von Soren Kierkegaard, Ferdinand von Schirach stellt ihn seinem jüngsten Kurzgeschichen-Band „Strafe“ voran. Tatsächlich wirken von Schirachs unerhörte Geschichten immer, als kämen sie aus der Stille - aus der Stille des Nachdenkens (auf Seiten des Autors) und aus der Stille der Sprachlosigkeit (auf Seiten der Menschen, die in den Geschichten vorkommen).
„Strafe“ vollendet die Trilogie, die mit „Verbrechen“ und „Schuld“ begann. Der Jurist von Schirach, Strafverteidiger und Schriftsteller, folgt damit der Prüfungsreihenfolge einer Anklage vor Gericht, hat er in einem Interview gesagt. Am Montag, 30. April, liest Ferdinand von Schirach im Würzburger Mainfranken Theater, das seit der vergangenen Spielzeit auch sein Stück „Terror“ auf dem Spielplan hat.
Sparsam mit biografischen Angaben
Es ist kurios: Selten tritt die Person eines Autors so vollständig hinter seinem Werk zurück, und selten hat der Leser dennoch das Gefühl, einem Autor in seinem Büchern so nahezukommen. Ob dieses Gefühl trügt oder nicht, kann der Leser natürlich nicht beurteilen, der Autor ist sehr sparsam mit Auskünften über sich selbst, die Pressemappe auf seiner Homepage etwa enthält einen einzigen Satz mit einer biografischen Information: „Er lebt in Berlin.“
Glücklicherweise gibt es das Internet, das sowohl Biografisches als auch - dank Youtube - bewegte Eindrücke bereitstellt. Laut Wikipedia ist Ferdinand von Schirach 1964 in München geboren, er ist Sohn des Münchner Kaufmanns Robert von Schirach (1938-1980) und Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Einer seiner Vorfahren ist Mitunterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, ein anderer gründete 1781 eine der ersten Zeitschriften Europas.
Die Bücher sind allesamt Bestseller
Von Schirach ließ sich 1994 in Berlin als Strafverteidiger nieder. Er vertrat unter anderen den BND-Spion Norbert Juretzko und das Ex-DDR-Politbüromitglied Günter Schabowski in den Mauerschützenprozessen. Seine Erzählungsbände und Romane sind Bestseller in vielen Sprachen, „Terror“ ist eines der erfolgreichsten Theaterstücke der Gegenwart.
Man kann nicht sagen, er sei kamerascheu. Auftritte in vielen Fernsehbeiträgen zeigen einen konzentrierten, offenen, schlagfertigen Gesprächspartner. Wenn er spricht, formt er die Wörter ganz vorne im Mund. So als wollte er sie bis zum letzten Moment gestalten, bevor er sie in den Raum entlassen muss. Viele, viele Moderatoren bemühen sich, nicht selten mit kaum verhohlener Eitelkeit, ihm sehr kluge Fragen zu stellen, er antwortet immer ein wenig klüger, das aber ohne jegliche Eitelkeit.
Mord ist in uns allen angelegt
Seine Hauptthese: Verbrechen bis hin zum Mord sind in uns allen angelegt. Die Umstände gebären die Tat, und diese Umstände können wir nicht voraussehen, geschweige denn, uns auf sie vorbereiten. Ohne sich selbst auszunehmen, sagt er in einem Fernsehporträt mit Gero von Boehm dennoch: „Ich bin zu ganz wenig fähig. Wie die meisten Leute aus der Strafjustiz. Weil wir wissen, was danach alles passiert. Man kennt den Ermittlungsrichter, vor dem man sitzen würde. Und da will man nicht sitzen.“
Ferdinand von Schirach erzählt von Menschen, in deren Leben sich Grundlegendes ändert - plötzlich oder allmählich. Die alles richtig und sich doch schuldig machen. Die sich selbst treu bleiben und damit Schreckliches bewirken. Die in letzter Sekunde zu Vernunft und Menschlichkeit finden und doch nicht mehr verhindern können, dass einem Mitmenschen Schlimmes widerfährt. Die ihrerseits Schlimmes tun und dennoch der Strafe entgehen.
Rache als (Selbst-)Befreiung
Seine Geschichten sind keine juristischen Lehrstücke, zumindest nicht in erster Linie. Wenn er Verständnis oder gar Sympathie für die Menschen hat, über die er schreibt, dann zeigt er es höchstens durch sein Timing, niemals in direkter Wortwahl. Es sind dies Momente, in denen der Leser beinahe erschrocken innehält. Interessanterweise taucht in „Strafe“ immer wieder ein Rachemotiv auf, das viel mit (Selbst-)Befreiung zu tun hat. An diesen Stellen zeigt sich von Schirachs ganze Meisterschaft. Ein Satz wie dieser wirkt dann wie ein mächtiger, lange nachklingender Schlag auf einen inneren Gong: „Auf dem Bürgersteig steht sie neben ihm und wartet, bis er tot ist.“
Ferdinand von Schirach ist ein Meister der distanzierten Dramatik. So sorgfältig er sich aus jeder Wertung heraushält und so selbstverständlich er voraussetzt, dass jedem Leser die Unterscheidung (und mitunter Unvereinbarkeit) von Recht und Gerechtigkeit bewusst ist, so kommen in seinen Büchern doch immer wieder Sätze vor, die in all ihrer schlichten, gleichsam sandgestrahlten Eleganz mehr über ihren Schöpfer aus(zu)sagen (scheinen) als all seine Fernsehauftritte.
Das Nagen eines stellvertretenden Schuldgefühls
Zum Beispiel in der letzten der zwölf Geschichten in „Strafe“. Sie beschreibt die letzten Begegnungen des Ich-Erzählers mit seinem Jugendfreund Richard, den ein Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen hat. Es kommt zu einem Treffen nach vielen Jahren Sendepause. Der Ich-Erzähler lässt danach den in der Zwischenzeit offensichtlich drogensüchtig gewordenen Richard in dessen Hotelzimmer zurück. Dann heißt es: „Bevor ich ging, sprach ich mit dem Hotelmanager. Ich gab ihm Geld, bat hin, regelmäßig nach Richard zu sehen . . . Ich glaubte, das sei alles, was ich tun könnte.“
Dieser Satz ist typisch in seiner treffsicheren Einfachheit. Er entschuldigt und rechtfertigt nichts, dennoch deutet er an, dass der Erzähler in der Zwischenzeit zu einer anderen Auffassung gelangt ist. Er hätte mehr tun können und vielleicht auch müssen. Der Fortgang der Geschichte löst diesen Konflikt nicht auf, aber das Gefühl, dass manches vielleicht anders gekommen wäre, hätte der Ich-Erzähler damals anders gehandelt, dieses Nagen eines stellvertretenden Schuldgefühls lässt den Leser nicht mehr los.
Mainfranken Theater: Lesung und Publikumsdialog mit Ferdinand von Schirach, Montag, 30. April, 19.30 Uhr, Großes Haus. Karten unter Tel. (09 31) 39 08 124 oder karten@mainfrankentheater.de