Auf den ersten Blick wirkt die Bühne wie eine Art Rittersaal. Wie die Banner von Lehnsmännern hängen große Stoff-Rechtecke gestaffelt im Raum. Es könnten auch Flaggen sein. Tatsächlich sind es Decken unterschiedlichster Muster und Farben. Braungelbe Wellen- oder Blumenmuster der 70er, arabische Ornamente oder einfach bunte Karos und Streifen.
Decken sind das zentrale Symbol in Dominique Dumais' neuer Tanztheater-Produktion "Muttersprache", die am Samstag im Mainfranken Theater Premiere hatte. Sie sind Kulisse und vielfach verwendbares Requisit. Tatyana van Walsum, verantwortlich für die Ausstattung (Licht: Mariella von Vequel-Westernach), hatte die Idee dazu, als sie eine Fotoausstellung über Flüchtlinge sah: Die Menschen auf den Bildern hüllten sich in Decken. Die Decke also als Chiffre für das letzte (oder erste) bisschen Schutz in der Fremde, für ein mikroskopisches Stück Heimat, aber auch für den Verlust von Heimat.
"Muttersprache" ist Dominique Dumais' Beitrag zum Spielzeitthema "Heimat". Sprache heißt hier vor allem Identität. Naheliegend, wenn man bedenkt, dass die zwölf Mitglieder der neuen Tanzcompagnie aus zehn Nationen stammen und neun Muttersprachen sprechen. Das Stück entstand nach wochenlangen Improvisationen, nach der intensiven Beschäftigung der Ensemblemitglieder mit den eigene Wurzeln. Und nach der Sortierung und Transponierung unzähliger Einzelaspekte in eine Art abstrahierte Körpersprache einerseits und sehr konkrete Szenen andererseits.
Dominique Dumais hat für das Stück einen ausgesprochen natürlichen Rhythmus gefunden
Ist ein Mensch vom ersten Moment an jemand? Muss er erst zu jemandem werden? Oder ist er schon jemand und wird dann zu jemand anderem gemacht – von Eltern, Schule, Umwelt, vom Leben? Eine unglaubliche Fülle von Fragen und Aspekten, immer wieder neu gestellt und getanzt, gerufen und gezeigt, und doch wirkt nichts überfrachtet oder demonstrativ. Im Gegenteil, Dominique Dumais hat für das Stück einen ausgesprochen natürlichen Rhythmus gefunden, zwei dramaturgische Kurven für die beiden Hälften, ungewöhnlich, oft überraschend, beinahe antizyklisch. Und doch so stimmig, dass ein Sog entsteht – hin zur Individualität jeder Tänzerin und jedes Tänzers und hinein in deren Gefühlswelten, die umso archetypischer wirken, je persönlicher sie dargestellt werden.
Das ist manchmal sehr komisch, oft bedrohlich und immer wieder zutiefst berührend. Diese neue, linkische aber unbeugsame Energie etwa, mit der sich Katherina Nakui (aus Kanada) zu Beginn auf die Bühne und damit ins Leben kämpft. Die zunächst triumphal selbstgewisse und dann immer bittender werdende Aufforderung "Look at me!" von Dominic Harrison (England) ganz vorn am Bühnenrand. Das Ringen von Maya Tenzer (Kanada) mit dem amerikanischen Treueschwur auf die Flagge ("I pledge allegiance..."), der schließlich zu einem Treueschwur auf sich selbst wird. Oder die verzweifelten Versuche von Ka Chun Hui (Hongkong), sich den anderen auf Chinesisch verständlich zu machen.
Es zieht sich eine gleichsam leuchtende Energie durch "Muttersprache"
Manchmal ist es auch ein Spiel mit Klischees, etwa wenn Debora di Biagi hinreißend plappernd ihre italienische Heimat preist, mit Wein, Essen, Familiensinn, Ehre und den Titanen der Kunst, während sie von drei Männern herumgetragen, herumgereicht, herumgezeigt und schließlich von der Bühne transportiert wird.
Es zieht sich eine gleichsam leuchtende Energie durch "Muttersprache", die ihren vitalsten Ausdruck im beglückend grobschlächtigen Tanz zum "Coro Delle Lavandaie", dem Chor der neapolitanischen Wäscherinnen von Roberto De Simone, findet. Hier ist alles unbedrohtes Selbstbewusstsein und stolze Kraft. Ganz anders als die bestürzenden Momente, in denen Étienne Gagnon-Delorme in kanadischem Französisch immer wieder versucht, Halt zu finden: "Hab keine Angst, das ist ganz normal, das geht vorüber".
Immer wieder ballt sich das Ensemble zusammen, wird zu einem vielarmigen und vielbeinigen Wesen, das Unerwünschte ausschließt oder Verirrte aufnimmt. Identität ist auch das, was die anderen erwarten. Oder zulassen. Oder erzwingen. Im zweiten Teil hängen nur noch die roten Schnüre von der Decke, sie sind mal Labyrinth, mal gekappte Marionettenfäden. Die Decken sind nun, je nach Bedarf, Regendach, Schutzschild, Statussymbol, Hemmschuh oder Kokon.
"Muttersprache" ist nicht zuletzt auch der geglückte Versuch, mehrere Sprachen organisch zu einer zusammenzufügen – die des Körpers, die der Wörter und die der Musik. Zu keinem Zeitpunkt zerfallen diese Elemente in Einzelteile. Oft sind schon die Zuspielungen eine Synthese zwischen Klang und Wort, etwa Meredith Monks "Scared Song" oder die Kompositionen von Heiner Goebbels, etwa "The Rain", ein Stück, in dem der französische Philosoph Claude Lévi-Strauss zu einem Präludium aus Bachs "Wohltemperiertem Klavier" über das Wesen der Menschheit sinniert.
Die Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie sind aus verschiedenen Teilen der Welt nach Würzburg gezogen, um ihrer Kunst nachzugehen. Gemeinsam mit Ballettchefin Dominique Dumais haben sie mit "Muttersprache" offensichtlich ihre gemeinsame Sprache gefunden. Das Publikum quittiert das mit langanhaltendem Beifall und einigem Jubel.
Die weiteren Vorstellungen: 18., 28. April; 4., 12., 14., 23., 25. Mai; 7., 15., 19., 23., 28. Juni. Karten: Tel. (0931) 3908-124 oder karten@mainfrankentheater.de