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Meiningen
Schrecklich, schaurig, schön: Meiningen zeigt den Struwwelpeter als schräges Musical
"Shockheaded Peter" ist eine Begegnung mit den Grausamkeiten und Dämonen der Kindheit. Warum das Musical der Tigerlillies im Meininger Theater trotzdem Spaß macht.
Struwwelpeter (Leo Goldberg) als Schneider in der 'Sensation vom Daumenlutscher'
Foto: Christina Iberl | Struwwelpeter (Leo Goldberg) als Schneider in der "Sensation vom Daumenlutscher"
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 27.04.2023 12:24 Uhr

Unerwartete Konfrontation mit den Schreckgestalten der frühen Kindheit: mit Struwwelpeter, dem bösen Friedrich und dem Daumenlutscher. Diese und andere Figuren aus Heinrich Hoffmanns Erziehungsklassiker aus dem Jahr 1845 tauchen in der Meininger Inszenierung des britischen Musicals "Shockheaded Peter" auf (wörtlich übersetzt: Peter, dem die Haare zu Berge stehen).

Seit 1998 sorgt die tiefschwarzhumorige britische Junk-Oper der Band Tiger Lillies und von Julian Crouch und Phelim McDermott (deutsch von Andreas Marber) für Begeisterung. Mit einem wilden Musikmix (Martyn Jacques) zwischen Kurt Weill und Tom Waits, aus Punk, Rock, Folklore, Ballade und Kinderlied, wird aus dem gruseligen Geschehen eine Varietéshow.

Kaum zum Leben erweckt, dominiert der kleine Dämon Struwwi seinen großen Bruder Struwwelpeter (Leo Goldberg)
Foto: Christina Iberl | Kaum zum Leben erweckt, dominiert der kleine Dämon Struwwi seinen großen Bruder Struwwelpeter (Leo Goldberg)

Wer in der frühen Bonner Republik lesen lernte, guckte wahrscheinlich noch voller Angst und braver Vorsätze auf die Schicksale der ungezogenen Kinder. Wer in den 1970er Jahren im Westen zum Bilderbuch griff, der erfreute sich an den frechen Geschichten des Anti-Struwwelpeters von F.K. Waechter. Schließlich hielt sich fernab liberaler Milieus noch lange das Erziehungsprinzip, man müsse aufbegehrenden Zöglingen den Willen brechen.

Anders als im Buch führen hier alle Missgeschicke zum Tod

Man sollte vermuten, dass nun, in der neuen Zeit, andere Themen für Kinder bedeutsam wären. Aber Regisseur Philipp Moschitz und sein Ensemble zeigen, dass dem nicht so ist. Die Struwwelgesellschaft wird in goldene und andere Fantasiekostüme gesteckt und auf die Bühne eines zirkusähnlichen Varietétheaters gestellt, eingerichtet und ausgestattet von Isabelle Kittnar (Meininger Bühne von Helge Ullmann). Dessen Kern besteht aus einem halboffenen, drehbaren Holzkubus, in dem sich die schrecklichen Dinge ereignen, die hier – anders als im Original – immer zum Tod führen.

Da liegt er tot am Boden, der böse Friedrich. Hätte er nur nicht den armen Hund gequält.
Foto: Christina Iberl | Da liegt er tot am Boden, der böse Friedrich. Hätte er nur nicht den armen Hund gequält.

Als Conférencier tritt ein harlekinesk gekleideter Struwwelpeter auf, der die "Sensationen" wie skurrile Bilderbögen präsentiert, über denen, trotz des Illusionstheaters, stets die bittere Wirklichkeit schwebt. ADHS, Magersucht, Adipositas, Aggressionen und andere Zwangsstörungen gehören mehr denn je zum Leben vieler Heranwachsender.

Mit betörender Eleganz und wandelbarer Stimme bewegt sich Leo Goldberg durch die Geschichte, die ihn als Struwwelpeter gleichermaßen fasziniert wie gefangennimmt. Denn an seine Seite gesellt sich ein kleiner Struwwelpeter, der nichts anderes ist als der bösartige Dämon, der im großen Bruder haust.

Man erkennt das Milieu, in dem die Rebellion der Heranwachsenden gedeiht

Das Ensemble aus Marcus Chiwaeze, Miriam Haltmeier, Anja Lenßen, Emma Suthe und Christine Zart singt, spielt und bewegt sich – bestechend choreografiert – nicht nur durch die Szenen, es macht zudem die Puppe Struwwi auf unheimliche Weise lebendig, wie später auch den vom bösen Friedrich gequälten Hund.

Auf der Vorbühne sitzt die Band "The Shockheads" mit Karl Epp/Josef Mücksch (Gitarre), Florian Winkel (Percussion, Posaune) und dem musikalischen Leiter Hans-Jürgen Osmers (E-Piano). Sie untermalt das Geschehen nicht nur mit einer schrecklich-schaurig-schönen Mischung harmonischer und disharmonischer Melodien und Klangfolgen, sie treibt es voran.

Das böse Ende des Suppenkaspers (Emma Suthe), in dramatischen Worten vorgetragen von Struwwelpeter (Leo Goldberg)
Foto: Christina Iberl | Das böse Ende des Suppenkaspers (Emma Suthe), in dramatischen Worten vorgetragen von Struwwelpeter (Leo Goldberg)

So geschieht mit den Zuschauern etwas Unerwartetes: Man erkennt das Milieu, in dem die Rebellion der Heranwachsenden gedeiht: Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit, Überforderung, Narzissmus, Erwartungsdruck und Dirigismus der Generation der Eltern. Dazu kommt das Treiben der eigenen Dämonen, die das Erwachsenwerden auf Gedeih und Verderb begleiten.

Das Publikum wird unweigerlich in dieses bitterböse, psychologisch tiefgründige Satirespiel hineingezogen. Aber es wird auf poetische Weise in der letzten Sensation – dem "Sieg der Fantasie" – aus dem Albtraum erlöst. Als Kind schon hat man den fliegenden Robert mit lustvollem Bauchkitzeln begleitet. Warum nicht auch als Erwachsener?

Nächste Vorstellungen im Februar im Großen Haus: 6. (15 Uhr), 13. (18 Uhr), 19. (19.30 Uhr). Kartentelefon (03693) 451 222. www.staatstheater-meiningen.de

 
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