Pfui! ruft da ein jeder: Garst'ger Struwwelpeter!“ Pädagogen waren entsetzt. Diesen „Struwwelpeter“, den der Frankfurter Kinder- und Nervenarzt Heinrich Hoffmann (1809 bis 1894) erfunden hatte, dürfe man Kindern nicht zeigen, warnten sie. Ein Hoffmann-Zeitgenosse schimpfte: „Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.“
Der „Struwwelpeter“, 1845 in Erstauflage erschienen, war aber auch ganz anders als die damals üblichen Bilderbücher. „Die waren moralinübersäuert“, sagt Dr. Claudia Maria Pecher. „Oder sie waren langweilig in ihrer Darstellungsform.“ Der „Struwwelpeter“ brachte eine neue Dynamik in die Kinderliteratur. „Er gilt heute als eines der ersten erzählenden Bilderbücher in Deutschland“, so die Vorsitzende der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach.
Auf den ersten Blick grausam
Doch die Qualitäten der „Lustigen Geschichten und drolligen Bilder für Kinder“, die Hoffmann zunächst nur für den eigenen Sohn gereimt und gezeichnet hatte, wurden nicht immer gesehen: Ende der 1960er, Anfang der 1970er wurde wieder „pfui!“ gerufen. Drollig? Wirklich nicht. Das Buch sei ein Paradebeispiel für „Schwarze Pädagogik". Heinrich Hoffmann wolle Kindern Angst einjagen, um ihren Willen zu brechen, mokierten sich Freunde der antiautoritären Erziehung.
Auf den ersten Blick sind die Geschichten tatsächlich grausam und furchteinflößend. Da geht – „Bauz!“ – die Türe auf, der Schneider stürmt herein und schneidet dem Daumenlutscher die Daumen ab – „klipp und klapp“. Und Paulinchen spielt, kaum „allein zu Haus“, mit dem Feuer und verbrennt zu einem Häufchen Asche.
„Man muss das aus der Zeit heraus verstehen“, sagt Claudia Maria Pecher. Heinrich Hoffmann habe Konsequenzen zeigen und warnen wollen. Beispiel Daumenlutscher: „Vorangegangen waren Zeiten der großen Epidemien in Europa. Damals gab es auch in Frankfurt noch keine Kanalisation. Das Abwasser wurde oberirdisch abgeleitet. Durch die Zunahme der Bevölkerung wurden die hygienischen Zustände immer schlimmer. Wer da an den Fingern lutschte, konnte sich schon schnell eine Infektion einfangen – mit ernsten Folgen, denn Antibiotika gab's noch nicht.“ Hoffmann habe um diese Gefahr gewusst, schließlich war er Arzt.
Vorläufer des modernen Bilderbuchs
Und das brennende Paulinchen? Streichhölzer und Feuerzeug waren Mitte des 19. Jahrhunderts recht neue Erfindungen, deren Gefährlichkeit gerade Kinder nicht einschätzen konnten.
„Außerdem mildern die Zeichnungen die Drastik der Geschichten, weil sie für eine karikaturistische Ebene sorgen“, so die Wissenschaftlerin am Institut für Jungendbuchforschung der Frankfurter Goethe-Universität: Auf das Grab des „Suppen-Kaspar“, der sich zu Tode hungert, platziert Hoffmann eine Suppenterrine. Hans-Guck-in-die-Luft wird von Fischen ausgelacht. Und die Katzen Minz und Maunz jammern über Paulinchens Asche: „Ihre Tränen fließen wie's Bächlein auf den Wiesen.“ Diese grotesken Bild-Details zeigen dem Leser, dass es sich um erfundene Geschichten und nicht um reale Vorgänge handelt.
Dass Bilder nicht nur den Text illustrieren, sondern ihn kommentieren und weitererzählen, sei das Revolutionäre an Heinrich Hoffmanns Bilderbuch. „Nach dem Prinzip des dialogischen Wechselspiels von Bild und Text funktionieren gute Bilderbücher noch heute“, erklärt die Expertin.
Womöglich richtete der „Struwwelpeter“–Autor seine Geschichten auch gegen nachlässige Erziehungsberechtigte: Paulinchen und Daumenlutscher Konrad werden vom Unglück getroffen, weil ihre Eltern sie allein gelassen haben („Konrad, sprach die Frau Mama, ich geh' aus und du bleibst da“),
Kritik am Biedermeier-Bürger?
Kritik am Bürgertum und an der spätbiedermeierlichen Familie hätte durchaus auf der Linie von Heinrich Hoffman gelegen. Der sozial engagierte Arzt beteiligte sich an der Märzrevolution von 1848. Unter dem Pseudonym Peter Struwwel (es war eines von mehreren) wetterte er gegen Reaktionäre und sture Dogmatiker. Wenn er seine Titelfigur, den langhaarigen Struwwelpeter, auf einen Sockel stellt, setzt er damit jedenfalls unterschwellig dem Unangepassten, dem Alternativen ein Denkmal. Durchaus denkbar, meint Claudia Maria Pecher.
Alles gut also? Kann man den „Struwwelpeter“ jedem Kind in die Hand drücken oder ihm daraus vorlesen und die Bilder zeigen? Pecher hält es mit den Brüdern Grimm. Die empfehlen Eltern in der Vorrede zu den „Kinder und Hausmärchen“, im Zweifelsfall eine geeignete Auswahl zu treffen. Kinder, die von ihren Eltern begleitet werden, können mit den teils grausamen Märchen schon umgehen, sagt Pecher und empfiehlt Bruno Bettelheims Buch „Kinder brauchen Märchen“.
„Bei sehr sensiblen Kindern sollte man besser auch mit dem ,Struwwelpeter‘ vorsichtig sein“, rät die Expertin, die aber auch findet: „Wenn man bedenkt, welch schlimme Bilder heute zu sehen sind, ist der ,Struwwelpeter‘ doch recht harmlos.“
Häufig, so mutmaßt Claudia Maria Pecher, werde das Buch heute ohnehin wohl gerne auch von Erwachsenen gelesen – „aus Nostalgie“. Denn Heinrich Hoffmanns famoses Werk, übersetzt in mehr als 40 Sprachen, ist längst ein Klassiker. Der Frankfurter Doktor mit dem Rauschebart hat mit seinen, in der ersten Version noch unbeholfenen, Zeichnungen Wilhelm Busch beeinflusst und somit auch den Boden für moderne Comics bereitet.
Und: Der „Struwwelpeter“ wurde immer wieder umgedichtet und parodiert, wie eine Ausstellung in Bad Kissingen zeigt (siehe Kasten). „So ein Klassiker hält sich auch durch Parodien“, sagt Claudia Maria Pecher.