Warum der Kiddusch-Becher aus der Synagoge von Arnstein nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nach Offenbach kam, bleibt ein Rätsel. Die US-Army sammelte dort im Archival Depot von den Nationalsozialisten geraubtes Kulturgut aus jüdischem Besitz. Es sollte wieder an die Eigentümer zurückgegeben werden – sofern die Menschen die Schoa überlebt haben und gefunden wurden oder die Institutionen noch existierten.
Die Kunstschutzoffiziere waren im Auftrag der Monuments, Fine Arts, and Archive Section (MFA&A) unterwegs – auch in Unterfranken. Vieles von dem, was die „Monuments Men“ entdeckt haben, wurde in die Sammelpunkte gebracht. Das Archivdepot in Offenbach war vor allem für jüdische Manuskripte und Bücher sowie jüdische Ritualobjekte (Judaica) zuständig.
Unbeachtete Kisten im Depot-Keller der Festung Marienberg
Der Arnsteiner Becher und weitere rund 150 Judaica blieben seltsamerweise in Würzburg – im Keller des Zeughauses der Festung Marienberg – und wurden dort lange Zeit nicht beachtet. Erst im Frühjahr 2016 kamen die jüdischen Ritualobjekte wieder in den Blick.
Entdeckt wurden sie bei Inventarisierungsarbeiten des Gesamtbestandes, die erstmals seit 1945 durchgeführt wurden. Den Provenienz-Erstcheck nahmen Christine Bach und Carolin Lange von der Landestelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern vor. Grund der Bestandsaufnahme war der Übergang des Mainfränkischen Museums in die Trägerschaft des Freistaats Bayern. Seit 2017 heißt es Museum für Franken.
Die Objekte lagerten in sieben Munitionskisten. Eine davon ist momentan im Jüdischen Museum München zu sehen – und dazu der ganze spektakuläre Fund; er gilt als einer der größten bundesweit und sorgte bei seiner Wiederentdeckung weltweit für Aufmerksamkeit.
Überraschung für den Judaica-Experten Bernhard Purin
Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums,, war „sehr überrascht, dass über 70 Jahre nach Ende der Schoa ein derart umfangreicher Bestand an bisher unbekannten jüdischen Ritualgegenständen in einer deutschen Museumssammlung wiederentdeckt werden konnte“. Andere Objekte waren längst vom Sammelpunkt Offenbach aus auf Veranlassung der Jewish Restitution Successor Organisation (JRSO) an jüdische Gemeinden oder Museen verteilt worden; vieles kam nach New York und nach Jerusalem.
Im Januar 2017 hat Judaica-Experte Purin den Fund erstmals in Würzburg gesichtet. Nun werden Fundstücke anlässlich des 80. Jahrestages des Novemberpogroms in einer in jeder Hinsicht besonderen Ausstellung vorgestellt. Der Titel der in Zusammenarbeit mit dem Museum für Franken entstandenen Schau – „Sieben Kisten mit jüdischem Material“– ist einer Notiz entnommen: Sie bezieht sich auf ein Telefonat vom 7. Juli 1947 mit Max Hermann von Freeden, damals mit der Neueinrichtung des Mainfränkischen Museums beauftragt und zugleich Treuhänder für kulturelles Eigentum in Nordbayern, und dem Nürnberger Büro der MFA&A. Die US-Kunstschützer wiesen den Würzburger an, „7 crates of Jewish material“ ins Archiv-Depot nach Offenbach zu schicken. Offenbar hat von Freeden das nie getan.
Die wertvollen Objekte lagen im Schutt des zerbombten Museums
Der Inhalt der Kisten wurde im Schutt des zerbombten Fränkischen Luitpold-Museums, das ab 1939 Mainfränkisches Museum hieß, geborgen. Die Objekte waren durch die Bomben, die am 16. März 1945 auf Würzburg fielen, deformiert, ausgeglüht, ineinander verschmolzen. Diese Schäden sind somit nicht am 9. und 10. November 1938 entstanden. Etwa ein Drittel der rund 150 wertvollen Objekte wurden während des November-Pogroms von den Nazis in den Synagogen beschlagnahmt. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bezeichnete das Pogrom bei der Ausstellungseröffnung in München als die „Nacht des Schreckens und der Verzweiflung für die Juden in Deutschland“.
Die Raubkunst gelangte, wohl auf Wunsch des damaligen Direktors Clemens Schenk, der beste Beziehungen zu Gauleiter Otto Hellmuth hatte, ins Mainfränkische Museum – und nach der Bombardierung Würzburgs ins Zeughauskeller-Depot. Nur einige Behälter wurden nach Offenbach transportiert. Über den Inhalt der in Würzburg verbliebenen Kisten hat Max Hermann von Freeden, trotz mehrerer Nachfragen, auch in seiner Zeit als Direktor des Mainfränkischen Museums, kein Wort verloren. Alles sei bei der Bombardierung Würzburgs zerstört worden, hieß es.
Bernhard Purin konnte die Ritualobjekte sieben unterfränkischen Synagogen in Arnstein, Ebelsbach, Gochsheim, Heidingsfeld, Miltenberg, Schweinfurt und Würzburg zuordnen. Hilfsmittel war die „Inventarisierung jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern“ durch den Kunsthistoriker Theodor Harburger (1887 - 1949).
Die Herkunft von 83 Objekten konnte Purin trotz „Harburger“ nicht herausfinden; auch sie sind in der Ausstellung im Jüdischen Museum München zu sehen. Sie liegen in einfachen Regalen, getrennt von den anderen Judaica, die in raumhohen, geheimnisvoll beleuchteten Glasvitrinen präsentiert werden. Die Objekte strahlen im dunklen Raum trotz ihrer schweren Beschädigungen. Die Choreografie der Ausstellungsarchitektur (von Martin Kohlbauer) soll ihnen ihre Würde wiedergeben.
Kiddusch-Becher war ein Geschenk an die Synagoge Arnstein
Auch der eingangs erwähnte Kiddusch-Becher ist ein Glanzpunkt in der Vitrine mit Judaica aus Arnstein – trotz seiner starken Verformungen. Die Inschrift ist noch erkennbar: „Gestiftet von Tony Siegel und Berthold Strauß“. Auf Hebräisch ist die Jahreszahl 675 eingeritzt.
Nachforschungen ergaben, dass Antonia/Tony Siegel und Berthold Strauss ihn wohl anlässlich ihrer Verlobung 1915 der Synagoge von Arnstein widmeten. Die Tochter des Pferdehändlers Seligmann Siegel aus Arnstein und der Mitinhaber der in Mannheim ansässigen Metzgereiwäschefabrik Hirsch heirateten im gleichen Jahr. In der NS–Zeit emigrierte die beiden nach Belgien. 1942 wurden sie von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet. Von vier Söhnen überlebten nur zwei; die anderen wurden wie ihre Eltern im Konzentrationslager getötet: Hermann Chaim Strauss in Auschwitz, sein Bruder Fritz in Riga-Jungfernhof.
Nicht nur an das Schicksal dieses Objekts, seiner Stifter und deren Familienangehörigen und auch der Synagogen wird in der Ausstellung erinnert. Auch die Geschichte der anderen Judaica wird beleuchtet – ausführlich im sehr empfehlenswerten Katalog, der in Zusammenarbeit mit dem Museum für Franken entstanden ist.
Erst München – dann Würzburg
Die Ausstellung „Sieben Kisten mit jüdischem Material – Von Raub und Wiederentdeckung 1938 bis heute“ wird bis zum 1. Mai 2019 im Jüdischen Museum München (St.-Jakobs-Platz 16) dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr präsentiert. Anschließend ist sie ab Juni 2019 im Museum für Franken in Würzburg zu sehen.
Die Exponate stammen überwiegend aus unterfränkischen Synagogen: Tora-Schmuck, Chanukka-Leuchter, Seder-Teller und vieles mehr. Einige Objekte gehörten zum Altbestand des 1913 gegründeten Fränkischen Luitpold-Museums (ab 1939 Mainfränkisches Museum): Dort wurde in zwei von 46 Räumen die Judaica-Sammlung gezeigt – bis 1939.
Nachforschungen, gefördert vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste, ergaben: 44 der in der Ausstellung gezeigten Objekte gelten als unrechtmäßig aus mehreren unterfränkischen Synagogen entzogen, teilte die Stadt Würzburg in einer Pressemitteilung mit. Der Stadtrat beschloss den Angaben zufolge am 18. Oktober 2018, sich an die Grundsätze der „Washingtoner Erklärung“ von 1998 beziehungsweise an die „Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände“ von 1999 zu halten.
Das heißt: Werke, deren rechtmäßige Eigentümer oder deren Erben ermittelt werden können, werden zur Rückgabe angeboten; oder es werden andere faire und gerechte Lösungen gefunden. Falls die Werke Institutionen entzogen wurden, die nicht mehr existieren und die keine klaren Rechtsnachfolger haben, sollen die Kulturgüter zur treuhänderischen Verwaltung an solche Institutionen übergeben werden, die im Sinne und Geist der ursprünglichen Eigentümer agieren. CJ