Die Schwester fragt ihren Bruder in einem Brief: „Und was wurde aus seiner Sammlung? Freust Du dich überhaupt manchmal an dem, was Du davon in Salzburg hast? Sein persönlichstes, wertvollstes Erbe hat sich, so scheint mir manchmal, für uns in die dunkelste Belastung verwandelt. Mir wird jedesmal ganz Angst, wenn ich nur daran denke.“
Diese Zeilen sind an Cornelius Gurlitt gerichtet. Seine Schwester Renate Benita hat sie am 6. November 1964 geschrieben. Das Erbe, von dem die Rede ist, tauchte erst ein halbes Jahrhundert später in der Öffentlichkeit auf – in München als „Schwabinger Kunstfund“ und danach in Salzburg – und sorgte weltweit für Schlagzeilen.
Die Schwester erwähnte in ihrem Brief zudem, wovor sie sich fürchtet und an was sie denkt: an Steuerfahndungen, Kriegsgefahr, Familienkräche. Sie erinnerte, wie stolz „Pappi“ darauf gewesen sei und wie viel mehr als Geldwert es ihm bedeutet habe. „Das alles ist gleichsam mit ihm begraben worden.“
Einkäufer für das „Führermuseum“
Der Vater von Benita und Cornelius – Hildebrand Gurlitt – starb 1956 an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Er wusste, dass Teile seiner Sammlung seinem Ansehen schaden konnten, wenn bekannt würde, wie sie vor 1945 in seinen Besitz gekommen waren. Der Kunsthistoriker mit jüdischer Großmutter wurde unter den Nazis zum Kunsthändler. Er stellte sich, als er zweimal als Museumsleiter aus dem Amt gedrängt wurde, ab 1938 in den Dienst des Regimes und besorgte ihm Devisen, indem er die als„entartet“ verfemte Kunst ins Ausland verkaufte. Zugleich war er einer der Einkäufer für das geplante „Führermuseum“ in Linz. Gurlitt hat im besetzten Frankreich zwischen Mai 1941 und Oktober 1944 mindestens 300 Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen und Tapisserien im Gegenwert von knapp 9,8 Millionen Reichsmark im „Sonderauftrag“ vermittelt.
Dabei hat er ein Vermögen verdient und seine eigene Sammlung aufgebaut. Er hat Kunst gerettet, sich aber auch bereichert und aufgrund der existenziellen Bedrohung als „Vierteljude“ seine Seele verkauft und mit dem Teufel paktiert.
Der „Sensationsfund“
Im November 2013 wurde bekannt, dass in einer Münchner Wohnung bereits im Februar und März 2012 Kunstwerke beschlagnahmt worden seien. Anfang 2014 wurden in Salzburg weitere Werke entdeckt. „Sensations-Fund“, „Raubkunst“ und „Nazi-Schatz“ waren damals die Schlagworte. Heute werden andere Worte gewählt wie „Aufklärungsarbeit“, „Provenienzrecherche“ oder „Bestandsaufnahme“.
Erstmals wird in einer Doppelschau in Bonn und in Bern eine Auswahl der 1566 Werke aus der Sammlung des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt präsentiert. Sein Sohn Cornelius hat sie viele Jahrzehnte lang gehütet und nach seinem Tod im Mai 2014 dem Kunstmuseum Bern vermacht.
Dort werden nun Werke präsentiert, bei denen die Besitzverhältnisse klar sind.
In Bonn hängen Bilder an der Wand, bei denen „aktuell kein Raubkunstverdacht“ besteht und/oder die „Provenienz in Abklärung“ ist – wie bei dem Aquarell „Dame in der Loge“ (1922) von Otto Dix (siehe großes Foto). In der Bundeskunsthalle ist aber auch NS-Raubkunst ausgestellt wie das jüngst identifizierte Werk „Frauenporträt“ von Thomas Couture. Bei ihm ist unklar, wie es in den Besitz von Hildebrand Gurlitt kam.
Zu den Exponaten in Bonn gehören etliche Werke, deren Spuren nach Franken führen. Hildebrand Gurlitt flüchtete nach der Bombardierung Dresdens vom 13. bis 15. Februar nach Aschbach, heute ein Ortsteil von Schlüsselfeld im Landkreis Bamberg, und kam mit seiner Familie im Schloss von Gerhard Freiherr von Pölnitz unter. Ein Teil seiner Kunstsammlung, wertvolle seltene Bücher und laut Zeugenaussagen sogar Goldbarren erreichten in Kisten verpackt auf Lastautos Aschbach und wurden dort im Schloss und später auch in Heuchelheim eingelagert.
In dem kleinen Ort, der heute ebenfalls zu Schlüsselfeld gehört, versteckte Hildebrand Gurlitt ab April 1947 in einer Mühle Bilder aus Frankreich, schreiben Meike Hoffmann und Nicola Kuhn in ihrer 2016 erschienenen Biografie mit dem Titel „Hitlers Kunsthändler“ (C. H. Beck). 1948 ließ Gurlitt sie „diskret“ direkt nach Düsseldorf transportieren, als er dort Leiter des Kunstvereins wurde. Die Werke tauchten erst Ende 2014 wieder auf – im Salzburger Haus der Familie Gurlitt. Sie zählen zu den Glanzlichtern des Kunstfundes – wie Paul Cezannes 1897 entstandenes Gemälde „La Montagne Sainte Victoire“.
Das Versteckspiel hatte seinen Grund. Ab 1946 galten sämtliche Erwerbungen in den von den Deutschen besetzten Gebieten wie Frankreich als unrechtmäßig. Gurlitt wusste, dass er brisante Bilder in seiner Sammlung hatte und versuchte alles, dass sie in seinem Besitz blieben – und hätte sie beinahe zerstört. Denn in der Mühle war es feucht. Hildebrand Gurlitt beauftragte seine Cousine Gitta mit der Restaurierung. Durch die unsachgemäße Lagerung in Salzburg vergrößerten sich die Schäden jedoch wieder.
Nicht alle der nach Aschbach verbrachten Werke hat Gurlitt verschwiegen. Bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft in Oberfranken wurde er von amerikanischen Offizieren befragt. Sie konfiszierten rund 150 Bilder und brachten sie zur Überprüfung in die zentrale Sammelstelle, den Central Collecting Point nach Wiesbaden. 1950/51 erhielt er sie, bis auf einige Ausnahmen, wieder als „clean“ zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hildebrand Gurlitt sein Entnazifizierungsverfahren bereits hinter sich, als „Vierteljude“ wurde er von der Spruchkammer in Bamberg schnell freigesprochen.
„Der Bestand Gurlitt ist ein Brennglas, in dem sich die politischen und künstlerischen Verwerfungen des 20. Jahrhundertes bündeln und in größter Tiefenschärfe fassen lassen“, schreibt Matthias Frehner im Katalog zur Doppelausstellung in Bern und Bonn. Seit den Gurlitt-Kunstfunden würde niemand mehr ernsthaft gegen die Aufarbeitung der Herkunftsfrage von Kunstwerken opponieren, so der Raubkunstexperte und ehemaliger Leiter des Kunstmuseums Bern.
Momentaner Stand der Dinge ist, dass unter den rund 1600 Grafiken, Gemälden und Figuren bis heute nur wenige Werke als NS-Raubkunst identifiziert wurden; laut dem Kunsthistoriker, Dokumentarfilmer und Autor Maurice Philip Remy sind es lediglich sechs, bei denen NS-Unrecht nachgewiesen sei. Er erhebt in seinem vor wenigen Tagen erschienenen Buch „Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal“ (Europaverlag) schwere Vorwürfe gegen die deutschen Behörden wegen ihres Vorgehens gegen Cornelius Gurlitt. Seine vom Vater an ihn vererbte Sammlung sei 2012 rechtswidrig als NS-Raubkunst beschlagnahmt worden. Man habe ihn dadurch „in den Tod getrieben“.
Auch ein Großcousin, Ekkeheart Gurlitt, meldete sich in Bonn zu Wort – mit einer anderen Sichtweise. Für ihn habe nicht unter dem NS-Regime, sondern in der heutigen Zeit der eigentliche Kunstraub durch Enteignung der eigentlichen Erben stattgefunden – als einer von ihnen sieht sich Ekkeheart Gurlitt.
Doppelausstellung und Ringvorlesung
In Bern und Bonn wird zeitgleich und erstmals eine größere Auswahl aus dem Nachlass von Cornelius Gurlitt beziehungsweise aus der Sammlung seines Vaters, des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, präsentiert. Unter dem Titel „Bestandsaufnahme Gurlitt. Der NS-Kunstraub und die Folgen“ steht in der Bundeskunsthalle Bonn die Herkunft der Bilder, der historische Kontext und der Werdegang Gurlitts im Fokus. Im Kunstmuseum Bern in der Schweiz liegt der Schwerpunkt auf der von den Nationalsozialisten verfemten Kunst der Moderne: „Entartete Kunst – beschlagnahmt und verkauft“. In Bonn ist die Ausstellung bis 11. März, in Bern bis 4. März 2018 zu sehen. Information im Internet: www.bundeskunsthalle.de www.kunstmuseumbern.ch
In Würzburg findet bis Februar 2018 die öffentliche Ringvorlesung „Sammlungen – Provenienz – Kulturelles Erbe 2.0“ statt. In Zusammenarbeit mit dem Museum für Franken stellen die Unifächer Geschichte, Kunstgeschichte und Museologie aktuelle Forschungsfelder und Forschungsergebnisse vor. Die Vorträge sind immer donnerstags von 18.15 bis 20 Uhr im Hörsaal 5 im Philosophiegebäude am Hubland Süd. Am 9. November spricht Iris Wenderholm (Uni Hamburg) „Zur Aktualität von Universitätssammlungen“; am 16. November Tobias Strahl (Sarajevo) über „Kultur – Erbe – Konflikt. das Negativ des Diskurses zum kulturellen Erbe“.
Informationen zum Gesamtprogramm:
www.phil.uni-wuerzburg.de provenienz/startseite_webrefresh/