
Orchester aus der Ukraine sind derzeit mehrere in Deutschland unterwegs, Opernensembles höchstwahrscheinlich nur eines: Am Mittwoch gastierte das Modern Music Theatre Kiev mit Beethovens einziger Oper "Fidelio" am Staatstheater Meiningen. Was zunächst nur als einmaliges Gastspiel geplant war, soll sich zu einer Minitournee mit weiteren Vorstellungen in Coburg, Heidelberg und Siegen ausweiten.
Doch selbst wenn es bei dieser einmaligen Aufführung bliebe, sie hätte dauerhafte symbolische Bedeutung: Ein ukrainisches Ensemble kommt mit der ersten ukrainischen "Fidelio"-Inszenierung überhaupt nach Deutschland. Also mit der Befreiungs- und Revolutionsoper schlechthin, während in der Heimat ein unfassbar brutaler Krieg tobt. Deutlicher kann man kaum sagen: Kunst muss sein!
Eine tiefe Auseinandersetzung mit totalitärer Herrschaft. Mehr noch: mit Macht an sich
Die Inszenierung des Sängers und Regisseurs Andrey Maslakov, die zwölf Tage vor dem russischen Überfall Premiere in Kiew hatte, kann man getrost als prophetisch bezeichnen: Maslakov verlegt die Handlung in die Stalin-Zeit. Vor einem alptraumhaft surrealistischen Hintergrundbild täuscht er zunächst einen operettenhaft komischen Ansatz vor. Doch schnell wird klar: Hier findet eine tiefe Auseinandersetzung mit totalitärer Herrschaft statt. Mehr noch: mit Macht an sich.

Maslakov zeigt, dass sich überkommene Unterdrückungsstrukturen ohne brutalste Mittel kaum ändern lassen. Zu stabil ist der verschlagene Opportunismus aller, die überleben wollen. Vor allem aber: Danach geht es sowieso weiter wie bisher, nur eben unter neuen Etiketten. Brutal deutlich wird das mit Fidelio/Leonore (herausragend in einem durch die Bank überzeugenden Ensemble: Yuliia Alieksieieva): Nachdem sie Florestan heldinnenhaft gerettet hat, soll sie zurück an den Herd. Ein Schicksal, dem sie sich nur mit einer mörderischen Maschinengewehrsalve entziehen kann.
Vermittelt von einem befreundeten Regisseur, hatte der Meininger Intendant Jens Neundorff von Enzberg an Ostern Maslakov mit seinem Ensemble nach Meiningen eingeladen. Maslakov konnte den Anruf erstmal nicht annehmen – er war gerade in den Luftschutzkeller unterwegs. "Bei jeder Explosion denkst du, dein Haus fliegt weg. Aber richtig nervös wirst du erst, wenn nach zwei Wochen Bombardierung plötzlich Ruhe ist", erzählte der Regisseur beim Pressegespräch vor der Vorstellung.

Tatsächlich gelang es in diesen paar Wochen, ungeheuer viele Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Die Männer brauchten – und bekamen – Ausnahmeausreisegenehmigungen, schließlich herrscht in der Ukraine Mobilmachung. Sie sind bis 25. Mai gültig. Auch deshalb hofft das Ensemble auf Anschlussvorstellungen. "Sonst kann es bei der Einreise gleich an der Grenze heißen: Ab zur Armee!", sagte Maslakov.
Vergangenen Samstag kam endlich auch das Bühnenbild an
Nach etlichen Fehlversuchen gelang es auch, das Bühnenbild außer Landes zu schaffen. Vergangenen Samstag kam es schließlich an. Was in die Geschichte der gesamten Produktion passt: Gearbeitet wurde seit Ankunft des Ensembles offenbar rund um die Uhr, unter anderem an den deutschen Zwischendialogen, die extra neu einstudiert wurden. Zusammengesetzt wurde alles in letzter Minute, also Sängerinnen und Sänger aus Kiew, Meininger Hofkapelle und die Chöre aus Meiningen und Coburg: "Das ist heute unsere zweite Probe", sagte der Intendant, und meinte damit die Premiere.
Dass eine solche Produktion in einem Land entsteht, dessen Menschen schon vor dem Krieg mit unzähligen Widrigkeiten zu kämpfen hatten, ist nachvollziehbar. Sie hier, in einem immer noch komfortabel ausgestatteten Land erleben zu dürfen, ist ein Geschenk von bleibendem Wert. So viel Energie, so viel Ernst, so viel Emotion. Das Publikum im ausverkauften Haus honorierte das mit anhaltenden Ovationen für ein sichtlich überglückliches Ensemble.