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Rottendorf
MainLit: Warum Uwe Timm zum Schluss das Publikum fotografierte
Der Schriftsteller las beim Literaturfestival und entpuppte sich als Kenner der Region. Der Grund dafür liegt über 50 Jahre zurück, wie er auf Gut Wöllried verriet.
Uwe Timm auf der Open-Air-Bühne des Literaturfestivals MainLit.
Foto: Silvia Gralla | Uwe Timm auf der Open-Air-Bühne des Literaturfestivals MainLit.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 12.09.2022 15:25 Uhr

Utopien und utopische Orte haben Uwe Timm schon immer interessiert. Also Ideen, die erst noch umgesetzt werden müssen. Oder Orte, die für eine bessere Art zu leben stehen, aber auch erst noch erschaffen werden müssen. Ob ihm in den langen Monaten des Lockdowns eine Lesebühne irgendwann auch nur noch wie ein utopischer Ort vorgekommen ist?

Fast wirkt es so, als der Schriftsteller die Open-Air-Bühne des Literaturfestivals MainLit auf Gut Wöllried bei Rottendorf (Lkr. Würzburg) betritt. Als ob etwas doch noch Wirklichkeit würde, was im Grunde nur noch eine ferne Erinnerung aus dem Reich der Fantasie gewesen war. Jedenfalls: Der 81-Jährige, der auf den Fotos zu den Klappentexten seiner Bücher nie lächelt, ist ausgesprochen froh gestimmt an diesem lauen Sommerabend. So froh, dass er zum Schluss seiner einstündigen Lesung seinerseits die Kamera vors Gesicht hebt, um das lang vermisste Publikum zu fotografieren: "Das mache ich sonst nie!"

Alles an Uwe Timm wirkt sommerlich elegant

Vielleicht liegt es auch daran, dass er Würzburg und der Region seit über 50 Jahren verbunden ist – seit er und seine Frau Dagmar auf der Hochzeitsreise hier waren. Blauer Anzug, blaues Polo, passende blaue Sneakers: Alles an Uwe Timm wirkt sommerlich elegant. Wie seine Sprache, die so wenige Attribute braucht, um so treffsicher Bilder in den Köpfen der Lesenden entstehen zu lassen. Etwa, wenn er beschreibt, wie eine Straße asphaltiert wird, und die Arbeiter "den Teer mit langen, gartenähnlichen Harken" verteilen.

Nachdem Auftritt signierte Uwe Timm seinen Erzählungsband 'Der Verrückte in den Dünen'.
Foto: Silvia Gralla | Nachdem Auftritt signierte Uwe Timm seinen Erzählungsband "Der Verrückte in den Dünen".

Uwe Timm liest aus "Der Verrückte in den Dünen" (Kiepenheuer & Witsch), eine Sammlung von Erzählungen, die sich allesamt mit Utopien befassen. Zum Beispiel mit dem Gründungsmythos der argentinischen Stadt Villa Gesell, aus der seine Frau Dagmar stammt. Heute ist Villa Gesell ein vielbesuchter Badeort an der Küste des Südatlantiks. Aber als Carlos Gesell 1932 anfing, eine Stadt zu bauen, waren dort nur Wanderdünen, deren Sand binnen Stunden alles unter sich begrub. 

Carlos Gesell, der Verrückte in den Dünen, gab nicht auf. Nicht nachdem Sandstürme wieder einmal teuer importierte Setzlinge vernichtet hatten. Nicht nachdem sein Frau ihn verlassen hatte. Nicht nachdem ein aus Europa angeforderter Experte nach dem anderen entnervt wieder abgereist war.

Uwe Timm erzählt gelassen, mit mildem Staunen und leisem, trockenem Humor

Irgendwann gelang es aber doch, die Dünen durch Bepflanzungen zu stabilisieren. Es entstand tatsächlich eine dauerhafte Ansiedelung, die heute etwa 30 000 Einwohner mit festem Wohnsitz und jährlich 750 000 Touristen verzeichnet. Uwe Timm hat Carlos Gesell, den Propheten, wie ihn seine Anhänger nannten, 1970 bei seinem ersten Besuch in Villa Gesell noch kennengelernt: "Ein großer alter Mann mit einem weißen Bart, einem Haarkranz um den kahlen Kopf und einer starken Ähnlichkeit mit Hemingway."

Uwe Timm erzählt gelassen, mitunter mit mildem Staunen, immer mit leisem, trockenem Humor. Der, wenn nötig, auch eine bittere Note bekommen kann, etwa, wenn sich in Menschen zeitgeschichtliche Verwerfungen abbilden wie im "Eleven" Timoteo, der Gesell eine Weile hilft: "Verlassen hatte er Deutschland, weil er dort zu einer Bruchrechnung geworden war: ein Dreiviertel Jude".

Nach einer Stunde ist die Erzählung zwar nicht in Gänze vorgelesen, die kuriose, utopische Stadt Villa Gesell aber fest in der geografischen Fantasie des Publikums verankert. Fester möglichweise als im Sand, in den sie gebaut ist. Uwe Timm erklärt, warum von nun an seine Stimme nicht mehr mitmachen werde: "Ich bin ein Trappist. Ich rede nicht viel. Ich sitze acht Stunden allein in meinem Zimmer. Und in dieser Zeit habe ich noch weniger geredet."

 
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