Die Sterne ziehen ihre ewigen Kreise um ihren Mittelpunkt, die Erde. Die Menschen auf der Erde leben in einer Ordnung, die so fest gefügt scheint wie die Bahnen der Gestirne. Alles, was passiert – auch Seuchen und Naturkatastrophen – ist Teil einer gottgewollten Heilsgeschichte, deren Sachwalter die Kirche ist. In diesem großen göttlichen Plan hat jeder seinen Platz. Schon die Kleidung zeigt, wer wer ist – und vor allem was: Adliger oder Bauer, Ritter oder Handwerker, Kaufmann oder Knecht.
Leben und Denken des Mittelalters sind bestimmt vom christlichen Glauben, der Hoffnung auf das Paradies und der Angst vor Fegefeuer und Hölle. Die sogenannte wirkliche Welt ist weniger wichtig. Indiz dafür: „Die mittelalterliche Kartografie hatte bis in das 13. Jahrhundert hinein keine praktische Absicht“, schrieb der Historiker Horst Fuhrmann (1926 bis 2001) in seinem Buch „Einladung ins Mittelalter“. Sinn und Zweck einer Landkarte sei nicht „diesseitige Orientierung“ gewesen, „sondern die Aufzeichnung des entfalteten Heilsgeschehens“. Die Kartografen interessieren sich seinerzeit eher für die Frage, wo denn das Paradies gelegen habe.
Das Diesseits wird bedeutsam
Dass sich zum Ende des 15. Jahrhunderts die Weltsicht einschneidend ändert, zeigt wieder die Kartografie. Anno 1501 bringt der Nürnberger Erhard Etzlaub eine „Landstraßenkarte des Heiligen Römischen Reiches“ heraus. Sie ist in der Bayerischen Landesausstellung in Coburg (siehe Kasten) zu sehen und gilt als erste umfassende Straßenkarte der modernen Kartografie. Der 63 mal 42 Zentimeter große, auf Büttenpapier abgezogene, Holzschnitt zeigt Straßen und Flüsse, Städte und Dörfer. Wer sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass Süden oben ist, kann den Main von Würzburg aus nach rechts bis Aschaffenburg verfolgen.
Es ist, als nehme der Mensch um 1500 das Diesseits als bedeutsam wahr. Die Orientierung in der – von Etzlaub ansatzweise realistisch kartografierten – Welt ist nun wichtiger als die Frage nach dem Ort des Garten Eden.
Die famose Landkarte ist ein Indiz dafür, dass in der vermeintlich fest gefügten Ordnung Risse klaffen. Risse, die für viele Menschen das Weltgefüge, wie sie es kannten, aus den Fugen geraten lassen. Der Blick aufs Diesseits bringt die aufs Jenseits ausgerichteten Institution Kirche – und vielleicht auch den Glauben an die unveränderliche Heilsgeschichte – ins Wanken. Ganz leicht zunächst nur.
Die Luther-Intrige
1517 nagelt Martin Luther seine Thesen an die Kirchentür zu Wittenberg. Auch er vertraut der alten Ordnung nicht mehr. Und vertieft, zunächst vielleicht unbewusst und womöglich als Teil einer Intrige, die Kurfürst Friedrich der Weise anzettelt, die Risse im Weltgefüge. Binnen weniger Jahre ist nichts mehr, wie es war.
Luther und die von ihm vorangetriebene Reformation sind Teil eines Umbruchs, der dem mittelalterlichen Weltbild endgültig den Garaus macht. Die Universalkirche, die das Funktionieren der Heilsgeschichte auf Erden durch ihre Traditionen sicherstellte, steht nun samt diesen Traditionen am Pranger. Lutheraner fordern, nur noch die Schrift solle gelten. Doch die kollidiert mit mancher Praxis der Kirche. Und weil Luther die Bibel in die Sprache des Volkes übersetzt hat – ein Akt geistiger Befreiung! – lässt sich das nun leicht nachprüfen. Sogar das Fegefeuer wird abgeschafft mitsamt der bequemen Methode, sich von der unbequemen Tortur nach dem Tod per Ablassbrief freizukaufen.
Eine weitere Umwälzung jener Zeit hilft den Reformatoren, ihre Ideen zu verbreiten. Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, hat Mitte des 15. Jahrhunderts den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden. Propaganda von allen Seiten kann schneller massenweise gedruckt und verbreitet werden – und mit ihr die Unsicherheit, der Abschied von der alten Weltordnung.
Was kann, was soll man noch glauben? Der christliche Glaube, der Menschen vorher grundsätzlich geeint hat, entzweit sie nun. Schon eine kurze Reise kann in ein Gebiet führen, in dem Protestanten dominieren – und umgekehrt. Kriegsangst liegt in der Luft. Gewalt zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen gibt es schon zu Luthers Zeit. Der Dreißigjährige Krieg, der von 1618 bis 1648 wütet, hat auch mit der Feindschaft zwischen Protestanten und Katholiken zu tun.
Grundstein unserer Gesellschaft
Eine schlimme Zeit? Für die meisten Menschen des 16. Jahrhunderts sicher. Das Leben war hart, die Lebenserwartung lag knapp über 30 Jahre. Doch das Ende der alten Weltsicht bot – aus heutiger Sicht – eine Chance. Eine Chance, neue Denkmuster auszuprobieren, neue Möglichkeiten zu erforschen. Es ging um mehr als nur verschiedene Versionen des Christentums: In der Renaissance, wie die Epoche genannt wird, blühten die Wissenschaft auf. Man glaubte nicht einfach. Man forschte nach. Galilei richtete ein Fernrohr in den Himmel und ließ die Illusion von der Erde als Zentrum des Universums zerplatzen.
Die Kunst, die jahrhundertelang fast nur biblische Geschichten und Heiligenlegenden darstellte, entdeckte die Welt und den Menschen. Michelangelo und Leonardo schufen im Sinne des neuen Denkens Werke, die die Kunst der nächsten Jahrhunderte beeinflussen sollte. Im Prinzip wurde der Grundstein für unsere offene und vergleichsweise tolerante Gesellschaft zur Zeit Luthers gelegt.
„Ritter, Bauern, Lutheraner“ – Die Bayerische Landesausstellung in Coburg
Auf etwa 1400 Quadratmetern zeigt die Landesausstellung in der Veste Coburg rund 300 Ausstellungsstücke zur Lutherzeit.
Teil des Rundgangs sind die historischen Räume, in denen der Reformator 1530 lebte und den Augsburger Reichstag verfolgte, von dem sich alle eine Lösung der Konfessionsfrage erhofften. Die Reformation wird in das politische und geistige Umfeld der Zeit eingebettet. Darin liegt die Stärke der Schau.
Getreu dem Titel „Ritter, Bauern Lutheraner“ wird die Geschichte einer Epoche des Umbruchs und Aufbruchs erzählt und gefragt: Was trieb die Menschen um? Wurde die Welt durch die Ideen und Schriften Martin Luthers verändert? Und was hat das mit uns heute zu tun?
Die Ausstellung will ein Panorama des Lebens in Stadt und Land, in Klöstern und Burgen entfalten. Das gelingt dank der aufwendigen Inszenierung. Die Schau ist in Kapitel unterteilt, etwa „Ritter, Tod und Teufel“, „Bewahren und verteidigen“ oder „Glaube, Gemeinschaft, Konfessionen“. Am Ende steht der „Raum der Freiheit“, in dem der Schatten des Besuchers, dank eines technischen Tricks, aus Freiheitsparolen besteht. In der Kirche St. Moriz in der Coburger Innenstadt (die einen Besuch wert ist) sind weitere Ausstellungsstücke zu sehen, etwa wertvolle Bücher – und der Altar aus dem 16. Jahrhundert. Öffnungszeiten: Täglich 9-18 Uhr. Bis 9. November. Beste Besuchszeit: wochentags unter Mittag. Der Weg zur Veste ist in Coburg deutlich ausgeschildert. hele